»Alle Menschen werden Städter« - so scheint die Losung unserer Zeit zu sein. War es zu Beethovens Zeit noch die Natur, die künstlerisch erbaute und inspirierte, so ist es heute die Großstadt, die – bis zur Pandemie beinahe unhinterfragt – alle kreativen Menschen unwiderstehlich anzieht. Was ist die Magie des urbanen Raums? Wodurch wird er kulturell derart dominant?

Der großstädtische Raum dient in seiner heutigen Form oft als Antriebsfeder künstlerischen Arbeitens: Eine nahezu grenzenlose Verfügbarkeit von Kulturerlebnissen anderer Künstlerinnen und Künstler, das Vibrieren der City, die Schlaflosigkeit, die erotische, genussmittelseitige Zerstreuung, die Lautstärke. Die Ferne wertender, moralisierender Urteile über Körper, Sexualität, Kleidung, Lebenswandel; das daraus virulent resultierende Gefühl wirklicher Freiheit des Schaffens - – über die Grenzen des bisher künstlerisch Geleisteten hinaus. Nicht zuletzt Austausch durch Nähe mit anderen; die Versicherung der Richtigkeit temporären Verwerfens; das Sich-aufgefangen-Fühlen in Phasen des Scheiterns. Aber vor allem wohl die amouröse Körperlichkeit als Utopie der Selbstfindung. Die Diversität der Klänge, Sprachen und Lebensentwürfe. Die Stadt als Projektionsfläche für all das, was die Suchenden suchen. Eine hell leuchtende Laterne für den Drang des Am-Puls-Bleibens, für das Nicht-Verpassen-Wollen, für die Flucht vor dem über den Gartenzaun gaffenden Nachbarn.
Menschliches Leid und freiheitliche Erlösung im urbanen Lebens(t)raum – das sind die Themen des großen Tanzabends mit dem Ballett am Rhein und Live-Musik von David Lang und SOPHIE.
»Zwischenwelten« / Ballett am Rhein / 10. & 13.9.2022 / Oper Bonn

Würde Beethoven in einer heutigen Stadt wohnen: Er hätte massive Probleme, so weiterzumachen wie einst in Wien. Allein wegen der aktuellen Wohnungsnot. Über vierzig Mal wechselte er dort – im urbanen Musikhotspot des 18. und 19. Musikjahrhunderts – angeblich die Behausung. Hier in einen Seitenflügel eines adligen Förderers, dort in die häusliche Gemeinschaft mit einer Frau, in die er möglicherweise (bald) »unsterblich verliebt« war. Innen Gefühle. Draußen die Stadt. Wien. Der »urbane Raum«, aber noch nicht gekennzeichnet von Maschinen und Umsiedlungen; eiserne Marksteine der im Wachsen begriffenen Frühindustrialisierung.
Musikalische Diversität aus urbanen Räumen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts: »Kadesha: Beethoven« / 16.9.2022 / Aula der Universität
Während Brahms (Salzkammergut) und Mahler (Südtirol) sich zum Komponieren in den ländlichen Raum in Zeiten der Hochindustrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts ins Ländliche, ins Naturnahe zurückzogen, denken wir angesichts eines vorgestellten »Beethovens in der Natur« sofort an seine sechste Sinfonie. Landleute führen einen Tanz auf – und, oh, mein Gott, da braut sich ein gewaltiges Gewitter zusammen! Beethoven als sinnierender, beschreibender Tonsetzer motivischen Beobachtens, als Umsetzer ländlicher Gefühle auf dem Lande. Und die Stadt? Auch ihn zog es offensichtlich dorthin, auch wenn er – an der Schwelle zum industriellen Zeitalter – noch ein intaktes, im besten Sinne sentimentales Verhältnis zur Natur hatte.
Der Vogel zwitschert, der Donner grollt: Beethoven spielt in seiner 6. Sinfonie »Pastorale« mit Naturlauten. Das Residenzensemble Spira mirabilis versucht sich an einer besonderen Interpretation des berühmten Werks – mit anschließendem Publikumsgespräch: 8. & 9.9.2022 / Pantheon & Rhein-Sieg-Forum

Beethoven war in Bonn nicht in beengten Verhältnissen aufgewachsen. Im Gegenteil, die Wohndimensionen der Familie Beethoven werden manches Mal sogar als »großzügig« beschrieben. Und Beethoven liebte die Natur, die rund um Bonn Möglichkeiten der Einkehr (und der Ausschau) bot. In diversen Biographien ist davon die Rede, dass Beethoven geradezu von der Stadt (die wir uns freilich nicht hektisch und groß vorstellen müssen) aufs Land »flüchtete«. Er hasste Gedränge. Mit dem »Druck« allgemeiner Lebenswelten (und Gassen) pflegte Beethoven keinen Umgang haben zu wollen (beziehungsweise: umging die »Enge der Normalität«).
Musik, etagenübergreifend: Bonns größtes Hochhaus lockt mit einem begehbaren Konzert auf verschiedenen Ebenen inklusive atemberaubenden Blick auf Stadt und Natur: »Post Klassik Vertikal« / 11.9.2022 / Post Tower
Doch Beethoven »flüchtete« nicht einfach. Er schnappte sich ein Fernrohr, suchte sich Aussichtspunkte und spähte angeblich stundenlang in die Weite hinaus. »Visionär, wie seine Musik!« – möchte man rufen. Manche Autoren konnotieren derlei früh sich zeigende Wesenszüge des Rückzugs mit dem kruden Etikett »misanthropisch«; den späteren Beethoven händeringend hier vorgezeichnet wissen wollend. Kontrastierend gibt Jan Caeyers zu bedenken: »Der junge Beethoven führte das Leben eines Hofmusikers. Wahrscheinlich liebte er es, die kurfürstliche Galalivree zu tragen: meergrüner Frackrock, Weste mit goldenen Knöpfen, grüne Kniehose und weiße Seidenstrümpfe, dazu ein Degen mit silbernem Gehänge. Beethoven war nicht sehr groß, aber schlank und kräftig gebaut. Sein pockennarbiges Gesicht hatte eine braune Farbe; er hatte dunkles Haar, schwarze Augenbrauen und einen durchdringenden Blick, was ihm den Spitznamen ‚Spangol‘ (Spanier) einbrachte. Der Heranwachsende war stolz auf sich und streifte gern elegant und modisch gekleidet durch die Stadt. Sein Status als junger Berufsmusiker im Dienst des Hofes verlieh ihm Selbstbewusstsein, die Musik war für ihn das Mittel zur Selbstverwirklichung geworden.« Der junge Beethoven, der fast schon als selbstgefälliger Dandy Bonn durchschreitet?
Wollte man den Dandy neu definieren und in die Lebenswirklichkeit der gGender-fluiden Großstadt bringen, die Mitglieder von Chin Chin würden sich wunderbar als Role -Model anbieten. In unserer Festivalzentrale feiern sie ein Fest der Liebe für alle Menschen: »Chin Chin: Music makes the people come together, yeah!« / 10.9.2022 / Viktoriabad

Und in Wien? Zwar lebten hier 1792 – im Jahr also der Übersiedlung Beethovens – bereits rund 250.000 Menschen, laut einer Überlieferung eines reisenden Engländers allerdings konnte man Wien zu dieser Zeit angeblich zu Fuß in weniger als einer Stunde umrunden; gleichwohl gehörte Wien zu Beethovens Zeit zu den Städten mit der höchsten Bevölkerungsdichte ganz Europas. Im Zentrum der Stadt wohnten fast 60.000 Menschen in großen Blocks, bei mindestens vier jeweiligen Stockwerken. Der englischen Schriftstellerin Lady Mary Montagu (1689–1762) kam Wien schon 1716 bautechnisch so vor, als seien hier gleich mehrere Städte übereinander errichtet worden. Das nach »oben« gebaute Wien harmonierte aber wohl, auch das berichtet Caeyers eindrücklich, nicht mit der verbliebenen Enge der mittelalterlichen Gassen und Plätze. Eine beklemmende Atmosphäre – in Mesalliance mit Gestank – und trotzdem Wahlheimat der größten Talente der Zeit.
Mit »nach oben« gebauten Häusern kennen sie sich aus: Alarm Will Sound aus New York komprimieren den Buzz der Großstadt in dichte Klanggewebe. Ddiverse Konzerte vom 15.-17. September 2022
Im Frühling 1802 hatte Beethoven einen Zusammenbruch erlitten; auch ausgelöst durch die Aussichtslosigkeit der Liebe zu Giulietta Guicciardi. Sein Arzt schlug ihm vor, sich aus der feindseligen (städtischen) Musikwelt zunächst einmal zurückzuziehen, um der Hektik der Stadt zu entfliehen. Am 22. April 1802 schrieb Beethoven: »Viele Geschäfte – und zugleich manche Verdrießlichkeiten – machen mich eine zeitlang zu manchen Dingen ganz unbrauchbar.« Beethoven verzog sich tatsächlich immer wieder in die Natur. Und erinnerte sich sicherlich dort seiner in weiten Teilen doch glücklichen Kindheit; sah vielleicht in seinen Nachmittagsspaziergangsträumen die damals in Bonn selbstgebauten Drachen am Himmel zappeln. Und immer wieder empfand Beethoven in der Natur eine unmittelbare Nähe zu Gott. Der Menschen- und Naturschöpfer, der sich mittels und in der Natur viel eher zeigt als in der Stadt. Die selbstgewählte Stadtflucht: sie tut »allen Menschen« gut.