Das Instrument mit 88 weißen und schwarzen Tasten ist ein absoluter Allrounder und das vielleicht beliebteste Musikinstrument überhaupt.* Man findet es in Kinderzimmern ebenso wie im Scheinwerferlicht der größten Konzertbühnen der Welt. Um herauszufinden, was die Faszination des Instruments ausmacht, haben wir Menschen befragt, die sich erwiesenermaßen damit auskennen: Konzertpianist:innen, Klaviertechniker und den Hersteller Steinway & Sons, der die heutige Form von Konzertflügeln maßgeblich definiert hat.
Woher kommt das Klavier?
Was viele nicht wissen: Schon im 15. Jahrhundert, der Zeit von Clavichord und Cembalo, haben erste Instrumentenbauer Tasteninstrumente mit Hammermechanik gebaut, wenn auch sehr selten. Es dauerte noch bis ins frühe 18. Jahrhundert, bis Hammerklaviere in größerer Zahl hergestellt wurden. Der italienische Klavierbauer Bartolomeo Cristofori hat die Hammermechanik erstmals technisch weiterentwickelt. Er nannte seine ersten Klaviere »Cimbali con piano e forte«. Der Name Pianoforte wird noch heute für historische Klaviere verwendet. Das Neue an der Hammermechanik: Je nach der Stärke des Anschlags schlägt der Hammer stärker oder schwächer auf die Saite. Endlich konnte man verschiedene Lautstärken auf dem Klavier spielen – daher der Name »piano e forte«, italienisch für »leise und laut«.
Beethovens Impulse auf den Klavierbau
Trotzdem haben viele Musiker:innen noch lange Zeit gerne auf Cembali gespielt. Denn die neuen Hammerklaviere klangen dumpf, waren kostspielig in der Herstellung und kompliziert zu warten. Die Klavierbauer jedoch haben im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer weiter an der Mechanik gefeilt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass parallel in Europa die industrielle Revolution ausbrach: Das neue Instrument durchlief eine musiktechnische Revolution, die es lauter, brillanter, größer und robuster machte. Bei Anbruch des 19. Jahrhunderts war es Ludwig van Beethoven, der als einer der eifrigsten Innovatoren unter den Pianist:innen mit Herstellern zusammen die Grenzen des Instruments immer wieder erweiterte.
»Es ist gewiß, die Art das Klawier zu spielen, ist noch die unkultiwirteste von allen Instrumenten bisher, man glaubt oft nur eine Harfe zu hören, und ich freue mich lieber, daß Sie von den wenigen sind, die einsehen und fühlen, daß man auf dem Klawier auch singen könne, sobald man nur fühlen kan, ich hoffe die Zeit wird kommen, wo die Harfe und das Klawier zwei ganz verschiedene Instrumente seyn werden.«
– Beethoven in einem Brief an den Klavierbauer J. A. Streicher 1796
Beethoven pflegte ausgiebige Korrespondenzen mit verschiedenen Klavierbauer:innen und verfolgte jede Neuerung. Zu seinen Lebzeiten kamen auf der Klaviatur eines Hammerflügels mehrere Oktaven an Tonumfang dazu. Außerdem wurde der Klang noch gewichtiger, noch lauter: die englische Bauart von Herstellern wie Thomas Broadwood mit Stoßzungenmechanik, schweren Hämmern und mehr Spannung auf Saiten und Korpus führten den Klang eines Hammerflügels noch weiter weg von dem harfenartigen, dünnen Klang, den Beethoven in dem Brief an den Wiener Klavierbauer Streicher beklagt. In den Klaviersonaten Beethovens lässt sich teilweise der Fortschritt im Klavierbau nachverfolgen. Die Sonate »für das große Hammerklavier« op. 106 galt zu seinen Lebzeiten als unspielbar auf den Flügeln der damaligen Zeit, es war sozusagen ein Stück Science Fiction für den Flügel der Zukunft.
Was braucht es für ein ideales Instrument?
Heute existieren Klaviere in allen Formen, Größen und Preislagen. Aber in der Klassik-Spitze ist der große Konzertflügel dominant – sogar der Flügel einer bestimmten Firma: Steinway & Sons. Die Mitte des 19. Jahrhunderts in New York gegründete Manufaktur stellt inzwischen Instrumente für fast alle Konzertpianisten und Bühnen weltweit her.
Auf die Frage, was das ideale Klavier ausmacht, gibt es sehr persönliche Antworten. Die japanische Pianistin Kiana Reid beschreibt ihren perfekten Flügel so:
»Ich mag einen satten Bass und singende höhere Töne: nicht zu hell, aber singend. Die Tasten sollten nicht zu schwer, aber auch nicht zu leicht sein. Wenn man etwas versucht und das Klavier es sofort versteht, ist das für mich ein perfektes Klavier. Manchmal versucht man, etwas zu machen, aber das Klavier sagt: ›Ist mir egal!‹ Das kommt vor.«
Das ideale Klavier: Eine Mischung aus individueller Klangvorstellung und mechanischer Ausgewogenheit. So beschreibt es auch Thomas Lepler, Klaviertechniker bei Steinway & Sons:
»Ein guter Konzertflügel hat alles an Farben und Dynamik, vom leisesten Pianissimo bis zum sehr starken Fortissimo. Auch das Gewicht der Tasten oder der Anschlag müssen perfekt sein. Der Flügel muss eine sehr gute Repetition haben. Alle Töne, von den tiefen zu den hohen, müssen von guter Qualität sein, sodass jedes Register gleichmäßig und gut zu hören ist.«
Die Anforderungen an den Klavierbau für ein Instrument, das perfekte Qualitätsansprüche erfüllen soll, sind hoch. Das fängt bereits bei der Technologie selbst an: 12.000 Teile aus Naturmaterialien stecken in einem Steinway-Flügel, die in einem einjährigen Produktionsprozess in handwerklicher Arbeit zusammengesetzt werden. Wie besonders ein Steinway klingt, beschreibt Ann-Paulin Steigerwald, Leiterin der Abteilung Concerts & Artists bei Steinway:
»Du weißt, wenn du einen Steinway unter den Fingern hast. Du spürst die höchste Qualität und den fantastischen Klang. Es gibt Leute, die sagen, dass man einen Steinway an besonders langen Tönen erkennt, also der Tragfähigkeit des Tons, und dass die Instrumente besonders viele Klangfarben haben, obertonreich sind.«
Die Nuancen der Klangfarbe
Die Geheimnisse des Klavierklangs sind komplex. Denn das Klavier in seiner heutigen Form ist ein mechanisch ausgeklügeltes System. Der Klang ist dabei abhängig von zwei verschiedenen Faktoren: Dem Rohbau in der Klaviermanufaktur und dem anschließenden mechanischen fine tuning, das ein Klaviertechniker am fertigen Klavier vornimmt. Ann-Paulin Steigerwald erklärt dazu:
»Das Instrument kann durch die Mechanik noch stark verändert werden. Aber es macht wahnsinnig viel aus, wie der Klangkörper als erstes zusammengesetzt wird: Der Körper oder Rim, der Resonanzboden oder Soundboard, die Metallplatte und die erste Bespannung mit den Saiten. Danach kann man mit den Hämmern und unterschiedlichen Tastenregulationen und -intonationen noch viel machen.«
Das fertige Klavier besteht zu einem großen Teil aus Holz: Ein Material, was auf Umwelteinflüsse reagiert und sich nach dem Bau weiterhin »bewegt«, wie Klaviertechniker Thomas Lepler sagt. Durch vermehrtes Spielen verändern sich auch die Hämmer, das Filz wird härter. Ein Klaviertechniker kann an der Hammermechanik sehr weitgehend auf den Klang einwirken.
»Wenn ich ein Klavier einrichten muss, beginne ich in der Regel mit der Mechanik. Man kann sie flüssiger und schneller machen. Alles, was man an der Mechanik macht, verbessert auch den Klang und die Obertöne. Danach behandle ich die Hämmer.«
Regulation und Intonation, so nennen sich diese beiden Arbeitsschritte. Reguliert wird die gleichmäßige und störungsfreie Beweglichkeit der Hammermechanik. Dabei achtet der Techniker auch darauf, verschiedene Register, also Tonhöhenbereiche des Klaviers, möglichst gleichmäßig einzurichten. Das Ziel ist, den Tastenwiderstand möglichst ausgewogen zu regulieren – in den Worten von Kiana Reid: »nicht zu schwer und nicht zu leicht«. Die Intonation betrifft den Klang: Mit kleinen Sticheln bearbeitet der Klaviertechniker den Filz der Hämmer, macht verhärtete Stellen weicher und bestimmt damit, wie brillant oder weich die Taste klingt. Thomas Lepler fasst es so zusammen:
»Bei der Intonation muss ich den Klang gleichmäßiger machen und alle Dynamiken herauskitzeln, die im Klavier vorhanden sein sollen, vom Pianissimo bis zum Fortissimo, damit alle Register eine gleichmäßige Farbe und eine gleichmäßige Dynamik haben. Wir Techniker können die letzten Prozent aus einem Instrument herauszuholen, um es zu seinem Maximum zu bringen: Wir bringen es zum Strahlen und zum Leben.«
Jedes Instrument ein Unikat
Vielleicht auf den ersten Blick überraschend ist, dass trotz der vereinheitlichenden Qualitätsstandards und der Bauweise jeder einzelne Flügel ganz unterschiedlich klingen kann. Die Naturmaterialien verhalten sich immer wieder unterschiedlich – und durch die Intonation kann ein Klaviertechniker einiges an Klangnuancen herstellen, wobei er sich nach den Wünschen der Pianist:innen richtet. Entsprechend klingen auch zwei Steinways nicht gleich. Dazu kommt die große Vielfalt an anderen Klaviermarken mit ihren klanglichen Eigenheiten. Andrey Denisenko, Pianist aus Russland, liebt die Vielfalt der Klaviere:
»Tatsächlich mag ich diese Vielfalt der Instrumente. Für uns Konzertpianisten ist das eine gute Sache. Man kann sich daran gewöhnen, nur auf einem Instrument zu spielen und darin perfekt zu sein. Das mag gut funktionieren, man weiß, was man tut und wie man es tut. Aber manchmal ist es gut, verschiedene Instrumente zu spielen, um zu experimentieren. Denn dann kommt man in die Situation, nicht genau zu wissen, wie es funktioniert, der Sound ist jedes Mal anders. Selbst bei Instrumenten einer Marke ist das so.«
Innovationen des 21. Jahrhunderts
Das Klavier ist vielleicht das Instrument, das die umfassendste technische Evolution durchlaufen hat. Und diese Entwicklung geht immer noch weiter. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden automatische Klaviere beliebt: Musik wurde auf Lochkarten oder Walzen eingespeichert und lässt sich auf diesen Instrumenten abspielen. Diese Idee hat der japanische Hersteller Yamaha mit seinem »Disklavier« in den 80er Jahren digitalisiert. Inzwischen ist es möglich, eine komplette Performance durch Sensoren im Klavier abzunehmen, digital zu speichern und auf einem solchen Instrument wieder abzuspielen: Eine geniale Kombination von analogem Instrument und digitaler Aufnahmetechnik, mit der eine aufgenommene Interpretation hautnah erlebbar bleibt. Auch Steinway baut inzwischen diese Technologie unter dem Namen »Spirio«.
Auch was das Format des Klaviers angeht, kommt heute wieder Innovationsfreude auf. Ann-Paulin Steigerwald gibt einen kleinen Einblick in die Steinway-Entwicklungsabteilung:
»Die harmonische Dämpfung wird seit ungefähr 5 Jahren gemeinsam mit Pianist:innen entwickelt. Die Dämpfung ist so angepasst, dass man keine Zwischengeräusche mehr hört. Außerdem ermöglicht sie so etwas wie Viertel- und Halbpedal. Dadurch kann man völlig neue Klangfarben entwickeln.«
Auch Versuche mit zusätzlichen Tasten wurden schon seit 1900 gemacht, etwa von Bösendorfer, dessen Flügel »Imperial« Komponisten wie Ferruccio Busoni, Béla Bartók und Claude Debussy zu Kompositionen angeregt hat. Der Australische Hersteller Stuart & Sons stellte vor wenigen Jahren ein Modell mit vergrößertem Umfang vor, für das bereits neue Werke entstanden sind. Auch beim Material gibt es Experimente, etwa das Carbon-Klavier, das Pianist Gergely Bogányi zusammen mit Klavierbauern entwickelte. Der Flügel ist nicht nur unabhängig von Feuchtigkeit und Temperatur, sondern hat auch einen ganz eigenen, neuartigen Klang. Ganz wie zu Beethovens Zeit ist die kreative Auseinandersetzung zwischen Technik und Mensch, Klavierbauer:innen und Musiker:innen noch lange nicht an ihrem Ende.
* Zahlen zur Beliebtheit des Klaviers finden sich für den deutschsprachigen Raum beim Deutschen Musikinformationszentrum: Die Statistik zu den am häufigsten gewählten Instrumenten im Instrumentalunterricht weist das Klavier als seit Jahrzehnten führend aus.