Jenseits des Orchesters
Die Institution Orchester, ein Gebilde mit klar definierten Rollen, Kompetenzen und Hierarchien: Diese Organisationsform für die Aufführung sinfonischer Musik erscheint im klassischen Musikbetrieb absolut in Stein gemeißelt. Immerhin sind Sinfonien kompliziert und benötigen ein perfektes Zusammenwirken vieler Menschen. Dafür braucht es Zuständigkeitsbereiche, braucht es Führung. Im normalen Sinfonieorchesterbetrieb übersetzt sich das sogar in Gehaltsklassen. Konzertmeister:in, allein berechtigt direkt mit der/dem Dirigent:in zu kommunizieren; Stimmführer:in, Timing-verantwortlich für die Kolleg:innen; Solobläser:in, vertraglich berechtigt die führenden Stimme zu übernehmen; und schließlich Dirigent:in, allein bestimmend über die musikalische Interpretation des Werks.
Seit den Zeiten von Beethoven, Hector Berlioz und Felix Mendelssohn im frühen 19. Jahrhundert wurde die Gesamtleitung von Orchestern an einen nicht-musizierenden Dirigenten übergeben. Das Ergebnis: Jede:r einzelne Mitspieler:in hat kaum Einfluss auf das große Ganze. Unzählige Entscheidungen trägt der/die Dirigent:in – das Tempo des Stücks, die Balance zwischen Haupt- und Nebenstimmen, die Entscheidung über die Gestaltung einer einzelnen Phrase, einer Klangfarbe oder die Führung von freiem »Tempo rubato«, dem Nachgeben und Anziehen der Gruppe.
Ein Orchester mit lauter Dirigent:innen
Spira mirabilis gründete sich als ein Kollektiv von Musiker:innen, die selbst in die Hand nehmen wollten, wie ihr Orchester klingt. Ein basisdemokratisch arbeitendes Ensemble lässt sich eigentlich nicht mehr mit dem Begriff Orchester bezeichnen, erklärt Geigerin und Gründungsmitglied Lorenza Borrani. Die Mitspieler:innen verändern die Matrix des Orchesterspielens auf mehreren Ebenen: Auf der Ebene der Probenarbeit, auf der Ebene der Aufführung und auf der Ebene der Kommunikation mit dem Publikum. Jede:r im Orchester studiert die Partitur und alle übernehmen gemeinsam die Aufgabe der Dirigent:innen, musikalische Entscheidungen zu treffen und »den Laden zusammenzuhalten«.