Meine erste Begegnung mit dem vision string quartet ist mir unvergesslich: denn die war absolut non-vision. Es war 2017 im Berliner Musikinstrumentenmuseum, ein »Dunkelkonzert«, wie es auch auf dem diesjährigen Bonner Beethovenfest zu erleben sein wird. Für allfällige Paniken erhielt man vom Veranstalter kleine Taschenlampen, die aber zum Glück allesamt ausblieben. Dafür erlebten wir eine Verflüchtigung und die Entstehung einer Art Ur-Erfahrung von Gemeinschaft.

Was nämlich am Anfang stand, war prompte sportliche Bewunderung für diese jungen Männer, die da (bis auf den Cellisten) im Stehen musizieren würden; wo doch gewiss unsereinem schon das lange Stehen im Finstern allein schwerfiele, ganz ohne Musizieren. Und dann die Akribie des Zusammenspiels ohne Blickkontakt! Nicht nur in Einsätzen und Schlüssen, sondern überhaupt in erfüllter Phrasierung. Doch die nackige Hochachtung für das Streichathletische wich bald einer faszinierend dunklen Musikrezeption, wie sie auch für einen gewohnheitsmäßigen Geschlossene-Augen-Hörer wie mich neu war. Das schien eine schwer greifbare Ungeschütztheit. Sie schenkte einem die Empfindung, man würde auf ungekannte Weise eins mit der Musik, die man da hörte im total schwarzen Raum (aber ist das dann noch ein Raum?). Verfinsterung als Erhellung. Und darüber hinaus, daneben, darunter verspürte man interessanterweise sehr deutlich etwas wie Gemeinschaft auch mit den anderen Menschen, die man um sich herum wusste, aber weder sah noch hörte; von gelegentlichen sanften Atemzügen abgesehen, die allerdings auch Sphärenklang des Schwarzraums hätten sein können.

Dabei ist diese Konzertgemeinschaft normalerweise eine zweischneidige Sache. Die Leute um einen können einen, sprechen wir es aus, stören und nerven. Sie schnaufen, sie blättern, sie husten, flüstern und scharren. Es kann dem Konzertbesucher, der wirklich und unbedingt zuhören will, ergehen wie Christian Morgensterns nervösem Menschen auf einer Wiese: Kaum daß er gelegt sich auf die Gräser / naht der Ameis, Heuschreck, Mück und Wurm, / naht der Tausendfuß und Ohrenbläser, / und die Hummel ruft zum Sturm. Nur, einfach wegzugehen, wie Morgenstern es empfahl, ist ja auch keine Lösung. Und was einem ohne nervende Nahgesellschaft fehlt, wurde manchem erst im kalten Konzert-Entzug während der Pandemie-Schließungen so recht klar. Bei den Künstlern aber ging das Gemeinschaftsverbot auch an die physische und materielle Existenz. Dabei gelang es (nebst den notorischen Livestreams und digitalen Formaten, denen eminent Zukunftszwingendes zuzusprechen man genötigt ist, will man nicht als borniert gelten) einzelnen Künstler tatsächlich, aus der Not kreative Funken zu schlagen: etwa Benedikt Kristjánsson, Elina Albach und Philipp Lamprecht, die mit ihrer spektakulär-konzentrierten »Johannespassion« für eine einzige Stimme eine weitere Ur-Erfahrung machen ließen. Die der Vereinzelung. (Aus deren Reflexion dann wiederum so etwas wie Gemeinschaft entstehen könnte.)
Kaum daß er gelegt sich auf die Gräser / naht der Ameis, Heuschreck, Mück und Wurm, / naht der Tausendfuß und Ohrenbläser, / und die Hummel ruft zum Sturm.
Nur, einfach wegzugehen, wie Morgenstern es empfahl, ist ja auch keine Lösung. Und was einem ohne nervende Nahgesellschaft fehlt, wurde manchem erst im kalten Konzert-Entzug während der Pandemie-Schließungen so recht klar. Bei den Künstlern aber ging das Gemeinschaftsverbot auch an die physische und materielle Existenz. Dabei gelang es (nebst den notorischen Livestreams und digitalen Formaten, denen eminent Zukunftszwingendes zuzusprechen man genötigt ist, will man nicht als borniert gelten) einzelnen Künstler tatsächlich, aus der Not kreative Funken zu schlagen: etwa Benedikt Kristjánsson, Elina Albach und Philipp Lamprecht, die mit ihrer spektakulär-konzentrierten »Johannespassion« für eine einzige Stimme eine weitere Ur-Erfahrung machen ließen. Die der Vereinzelung. (Aus deren Reflexion dann wiederum so etwas wie Gemeinschaft entstehen könnte.)
Die speziellste Form von musikalischer Gemeinschaft ist vielleicht das Streichquartett. Böse Zungen mögen behaupten, es sei so etwas wie die bürgerliche Klein- und Kernfamilie unter den musikalischen Gemeinschaften; also je nach Perspektive die Keimzelle der Gesellschaft oder aber ein Horror der Intimität. Passenderweise jedenfalls basiert diese Ensemble-Art öfter auf Familienbanden (einem Wort, dem Karl Kraus bekanntlich den »Beigeschmack von Wahrheit« attestierte): Seien es die Geschwister Hagen, seien es die Schmidts beim Mandelring Quartett, dessen familienfremder Bratschist einmal bekannte, den Einstieg in das bewährte family business habe er sich sehr misstrauisch lieber dreimal überlegt … Neben dem aufregenden vision string quartet setzt derzeit gewiss das französische Quatuor Ebène weltweit Maßstäbe. Faszinierende Einblicke in das Funktionieren dieses komplexen Mikrokosmos bot vor einigen Jahren Daniel Kutschinskis Dokumentarfilm 4.

Die Musikkritik begnügt sich öfter gern mit dem floskelhaft lobenden Hinweis auf den »perfekt homogenen Klang« eines solchen Vierer-Ensembles. Aber das ist eben nur eine Facette von Streichquartett, das in gewisser Weise – bürgerliche Kleinfamilie hin oder her – eben doch die ideale musikalische Gemeinschaft bildet: eine von unbedingten Individuen, kein Kollektiv. Genauso abgenudelt wie die Homogenität ist das notorische Goethe-an-Zelter-Zitat über das Streichquartett, zumindest dessen erster Teil. Da es im weiteren Gang erfreulich an Knackigkeit verliert, sei es einmal vollständig wiedergegeben: »Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.« Die Rede vom Glauben an das Diskursen-etwas-Abgewinnen hat für den plauderformatgeprüften Besucher mancher Gegenwartsmusikfestivals durchaus auch einen Beigeschmack von Wahrheit …
Dass es freilich oft am spannendsten ist, wenn das Vierergespräch vollkommen unvernünftig wird, wissen Quartettfreunde vom späten Beethoven bis zu Lutosławskis aleatorischen Eskapaden und darüber hinaus zu schätzen. Und »ideale Gemeinschaft« im Sinne des Miteinanders freier Individuen sind heute nicht nur Streichquartette, sondern auch jene musikalische Besetzung, die wahrscheinlich die typischste für die Gegenwartsmusik ist: das flexible Solisten-Ensemble. Das Ensemble Resonanz, das auch beim Beethovenfest auftritt, ist zweifellos eines der besten.

Diese Gemeinschaft von Freien – wobei der Begriff »frei« für Freiberufler immer, und nicht erst seit Corona, auch einen Beigeschmack von Hohn haben kann – bildet sich nicht nur im Bereich von Konzertformaten ab, wo es eine ungebrochene Lust am Aufbrechen und Experimentieren gibt (selbst wenn manch fleißiger Konzertgänger »innovative Konzertformate« eher als Drohung denn Verheißung versteht). Auch auf der Ebene der Ensemble-Organisation gehen viele junge Orchester neue Wege, von Projekt zu Projekt: ungebunden mit allen persönlichen Vorzügen und Nachteilen, aber immer hochkonzentriert und ohne die Gefahr institutioneller Routine. Die junge spira mirabilis – international besetzt, in Norditalien beheimatet – bezieht sich mit ihrem Namen auf die logarithmische Spirale, deren Abstand zum Mittelpunkt sich mit jeder Runde um den gleichen Faktor verändert. Eine musikalische Nautilusschale also, oder ein Schneckenhaus; aber keines, in das man sich zurückzieht. Und denkt man vom Quartett aus, so geht es in einer weiteren Schlaufe per Faktor 2 zur Form des Oktetts. Schubert und George Enescu haben zwei der schönsten geschrieben. In Bonn wird die Besetzung für die »Pastorale« dann noch einmal erweitert. Ob Oktett- oder sinfonische Besetzung: Das im Kollektiv durchdachte und geprobte Werk wird am Ende eines jeden Konzertes (das eben aus nicht mehr als diesem einen Werk besteht) mit dem Publikum reflektiert, um die Idee der Interpretation zu vergemeinschaften.
Suchte man den Gegensatz schlechthin zum klassischen Konzertsaal, so fiele einem vielleicht das Treppenhaus ein. Es kann aber auch einfach ein »Geheimer Ort« sein, den das Publikum erst kurz vor Konzertbeginn erfährt, wie auch das Programm selbst. So hält es jedenfalls das Orchester im Treppenhaus, das seit 2006 auf der Suche nach neuen Konzertperspektiven ist. Ob der Ausbruch aus dem Konzertsaal, diesem Musikzoo (um das Bild vom Museum einmal zu variieren) gelingt oder nervt, das zeigt sich immer neu in jedem Versuch, und gewiss auch bei jedem Rezipienten anders; denn auch der bildet seine Gemeinschaften frei und flexibel. Und vielleicht dreht sich einmal dem Hörer die Wunderspirale im Treppenhaus sogar derart, dass ein im positiven Sinn schwindeln machender Vertigo-Effekt entsteht.