Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Kian Soltani Violoncello
Anja Bihlmaier Dirigentin
28.8.– 27.9. 2025
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Kian Soltani Violoncello
Anja Bihlmaier Dirigentin
Peter Tschaikowsky (1840–1893)
Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und Orchester A-Dur op. 33 »Rokoko-Variationen«
Moderato assai quasi Andante
Thema. Moderato semplice
Var. 1. Tempo della Thema
Var. 2. Tempo della Thema
Var. 3. Andante sostenuto
Var. 4. Andante grazioso
Var. 5. Allegro moderato – Cadenza
Var. 6. Andante
Var. 7 e Coda. Allegro vivo
Bernd Alois Zimmermann (1918–1970)
»Musique pour les soupers du Roi Ubu«
I. Entrée de l’Académie – Ubu Roi, Capitaine Bordure et ses partisans – Couplet
II. Mère Ubu et ses Gardes – Couplet
III. Pile, Cotice et l’ours – Couplet
IV. Le Cheval a Phynances et les larbins de Phynances – Couplet
V. Pavane de Pissembock et Pissedoux – Couplet
VI. Berceuse des petits financiers qui ne peuvent pas s’endormir – Couplet
VII. Marche du décervellage
Pause
Olly Wilson (1937–2018)
»Shango Memory«
Dmitri Schostakowitsch (1906–1975)
Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op. 70
I. Allegro
II. Moderato
III. Presto
IV. Largo
V. Allegretto
Das Programm des heutigen Abends ist witzig, raffiniert, nachdenklich und voller Referenzen. Es ist ein regelrechtes musikalisches Netzwerk. Auch wenn die Kompositionen in ganz unterschiedlichen Klangräumen verortet sind, haben sie eines gemein: Sie sind kritisch und reflektieren sich gleichsam selbst.
Insofern ist dieses Konzert eine Einladung, hinter Fassaden zu hören, denn die Werke verdeutlichen in besonderem Maße, dass Musik mehr ist als ein organisiertes Schallereignis. Sie ist ebenso immer Ausdruck ihrer Entstehungsumstände. Je mehr wir über die Stücke wissen, desto nahbarer werden sie – gerade dann, wenn sie voller Anspielungen, Codes und Querverweisen sind. Viel Freude beim Rätseln!
Die »Rokoko-Variationen« sind in gewisser Weise wie die Verabredung zweier Personen zum Kaffee. Sie sehen sich nicht häufig, doch sie kennen sich schon lange. Daher haben die Gespräche vertrauten Charakter. Sie sind weder oberflächlich noch intim, aber trotzdem vielseitig – eine freundliche und angenehme Begegnung.
Entsprechend sind die »Rokoko-Variationen« alles andere als opulent: Kein spätromantisches Riesenorchester, keine monumentalen Zeitdimensionen. Im Gegenteil: Die Musik wirkt wie destilliert. Das spiegelt sich auch in der Instrumentierung wider: Ein Orchester, das – im ursprünglichen Sinne – klassisch besetzt ist, wie im späten 18. Jahrhundert üblich. Nicht nur hier schwingt die Reminiszenz an Mozart mit, sondern ebenfalls in den musikalischen Gesten: Auf eine charmante Einleitung, in welcher sich alle Orchestergruppen geradezu kurz grüßen, folgt bereits das Solo-Violoncello mit der Vorstellung des Rokoko-Themas.
Diese Epoche von etwa 1730 bis 1780 bezeichnet einen Kunststil, bei dem Eleganz und Ornamente im Vordergrund stehen. Der Begriff leitet sich vom französischen ›Rocaille‹ her, ›Muschelwerk‹. In der Musik wird die Zeit der Frühklassik im Übergang von Barock zu Wiener Klassik manchmal so benannt.
Vorsicht: Bei dem besagten Thema handelt es sich nicht um ein Zitat einer:s Komponist:in des 18. Jahrhunderts, sondern um eine musikalische Komprimierung des Rokoko von Tschaikowsky: geistreich, raffiniert, galant. Das gilt auch für die Variationen, die vielfältig in ihrem Charakter und flüchtig in ihrer Dauer sind – stets wird das Gleichgewicht gesucht. Wenn dann doch einmal ein romantischer Gefühlsausbruch auftritt, kehrt die Musik subtil zur Contenance zurück.
Das Zitieren aus den Werken anderer Komponist:innen hat eine lange Tradition. Doch nur wenige haben es so weit getrieben wie Bernd Alois Zimmermann in der »Musique pour les soupers du Roi Ubu« – hier wimmelt es nur so von musikalischen Zitaten. Doch was soll das überhaupt?
Durch die hohe Dichte an Zitaten wirkt die »Musique« häufig übertrieben, satirisch und eigentümlich aufgebläht. Doch sie hat auch etwas von einem Rätsel: Die Art und Weise, wie die Zitate miteinander kombiniert werden, wann und wie sie gemeinsam auftauchen, ermöglicht viele Interpretationsmöglichkeiten. Ist es eine Anspielung, ein Scherz, eine Chiffre? Oder um einen von Zimmermann verwendeten Begriff aufzugreifen: eine »Invektive«, eine musikalische Schmähschrift?
Wichtig ist hier die Referenz auf König Ubu, die Hauptfigur des gleichnamigen Theaterstücks (1896) von Alfred Jarry – ein machtgieriger Offizier, der durch Mord an seinem König zum Herrschenden wird, tyrannisch regiert und schlussendlich nach seiner Niederlage feige flieht. Wenngleich überspitzt dargestellt, sind politische Willkür, Unterdrückung und Verfolgung aktueller denn je. Hierzu schrieb Zimmermann seinerzeit über sein auch szenisch aufführbares »Ballet noir« (dt. schwarzes Ballett):
»Zur Verdeutlichung unserer ganz und gar disproportionierten geistigen und kulturellen Situation werden musikalische Collagen heiterster bis härtester Note (in des Wortes Bedeutung) angewandt […], eine Farce, die bieder und scheinbar fröhlich, dick und gefrässig, wie Ubu selbst, daherkommt: scheinbar ein gewaltiger Ulk, für den jedoch, der dahinter zu hören vermag – ein warnendes Sinngedicht, makaber und komisch zugleich.«
Die musikalischen Zitate sind in der Tat unglaublich bunt: Wir hören Renaissance-Tänze, Nachkriegs-Avantgarde, Fetzen aus romantischen Opern (»Walkürenritt« und co.), eine Jazz-Combo, Choräle, den »Radetzky-Marsch« oder Bachs Brandenburgische Konzerte. Doch im letzten Satz, der drastisch von Zimmermann mit »Marsch der Gehirnzermantschung« überschrieben ist, wird die Aufmerksamkeit auf eine bittere Erkenntnis gelenkt: Vielfalt kann zu Einfalt verkümmern, wenn sie nicht aktiv kultiviert wird.
I. Eintritt in die Akademie – König Ubu, Hauptmann Bordure und seine Anhänger
Die Akademie nimmt Bezug auf den Kompositionsanlass, Zimmermanns Aufnahme in die die West-Berliner Akademie der Künste.
II. Mutter Ubu und ihre Wachen
Mutter Ubu ist die Ehefrau Ubus. Ihre Rolle als böse Anstifterin parodiert die Lady Macbeth.
III. Pile, Cotice und der Bär
Die »zwei Rüpel« sind Pallottiner, ein katholisch-apostolischer Orden. Ubu hetzt ihnen einen Bär auf den Hals.
IV. Das Phynanzpferd und die Phynanzdiener
Phynanz ist eine Wortverschränkung von Physik und Finanz und meint die abstruse Weltsicht von Ubu.
V. Pavane von Pissembock und Pissedoux
Zwei Gefolgsleute Ubus, deren Namen mit dem Wort pisse (Urin) und doux (sanft) spielen.
VI. Wiegenlied der kleinen Finanziers, die nicht einschlafen können
VII. Marsch der Gehirnzermantschung
Am Ende des Dramas verurteilt Ubu alle Reichsadeligen zum Tode durch Gehirnauspressung.
»Music is experience consciously transformed« (»Musik ist Erfahrung, die bewusst umgewandelt wird«) – so beschrieb Olly Wilson (1937–2018) sein Musikverständnis in einem Interview. Es überrascht daher nicht, dass er diese Erfahrungen auch auf vielerlei Art kultivierte und vermittelte: als Komponist, Musiker, Lehrer und Musikwissenschaftler. Am Oberlin College in Ohio, das zu den ältesten Konservatorien der Vereinigten Staaten gehört, leistete er Pionierarbeit auf der Schnittstelle zwischen Technik und künstlerischer Praxis: Dort gründete er Ende der 1960er-Jahre mit TIMARA (Technology in Music and Related Arts) eines der ersten universitären Ausbildungsprogramme für elektronische Musik in den USA.
Eine herausragende Rolle in seiner kompositorischen Arbeit spielte jedoch die Reflexion über die Wurzeln und Geschichte der afroamerikanischen Musikkultur und die Aufarbeitung der afrikanischen Diaspora. Dies spiegelt sich auch in »Shango Memory« wider, über das er schreibt:
»›Shango Memory‹ ist inspiriert von der Yorùbá-Gottheit Shango, dem Gott des Donners und des Blitzes. Er besetzt eine herausragende Stellung im Pantheon der Gottheiten bei den Yorùbá in Westafrika. Auch an vielen Orten der afrikanischen Diaspora wird er verehrt, insbesondere in der Karibik und in Südamerika. Ich habe versucht, Shango als Metapher für einen Prozess der Aneignung zu nutzen: Wie westafrikanische Musikkonzepte im amerikanischen Kontext neu interpretiert und zur Grundlage der afroamerikanischen Musik wurden.«
In »Shango Memory« werden wir durch unterschiedliche, sich überlappende und aufeinander bezogene Klangwelten geführt: Komplexe Rhythmen überlagern sich, gedämpfte Blechbläser werden mit klirrendem Schlagwerk synchronisiert. Wir hören wehmütige Streichertexturen und auch melodische Fragmente, die an das Call-Response-Prinzip von Worksongs erinnern – jene Arbeitslieder, welche einen der vielen Anknüpfungspunkte des Blues bildeten. Wilson betonte, dass es sich nicht um »Orchestervariationen über ein afrikanisches Thema« handelt. Eher erkunde das Werk einige grundlegende Ideen, welche afroamerikanische Musik charakterisieren:
»Mein Stück bringt etwas unseres kulturellen Gedächtnisses musikalisch zum Ausdruck. Genauer gesagt sehe ich es als musikalischen Essay, der Shango als kulturelles Erbe aus der Perspektive eines Komponisten betrachtet, der seinerseits am Ende des 20. Jahrhunderts vielen Einflüssen unterliegt.«
Anlässlich des Siegs im Zweiten Weltkrieg erwartete die sowjetische Führung von Dmitri Schostakowitsch eine dem Anlass angemessene triumphale Musik. Viele seiner Werke sind jedoch Ausdruck eines unerträglichen Spagats: Jenem zwischen dem Drang nach freiem Denken und dem Leben in einem totalitären, unfreien Staat. Der ohnehin schon mit Argusaugen beobachtete Schostakowitsch musste in dieser Situation auch noch seine neunte Sinfonie abliefern. Als Komponist:in eine Neunte zu schreiben, war mit so mancher Erwartung und Bürde verbunden – die historischen Fußstapfen, etwa mit den Sinfonien von Beethoven, Schubert oder Mahler, sind übergroß.
Der erste Eindruck scheint die Erwartungen zu erfüllen: Groß besetztes Orchester, fünf Sätze und sogar in Es-Dur. Eine Tonart, die in gewisser Weise als musikalischer Code gelesen werden kann, denn viele Werke in Es-Dur sind programmatisch mit Triumph und Held:innentum verwoben – denken wir beispielsweise an die dritte Sinfonie von Beethoven (»Eroica«).
Doch Schostakowitsch hat die sowjetische Führungsriege mit dieser Komposition endgültig brüskiert. Die Sinfonie ist alles andere als triumphierend – sie ist doppelbödig: Aufgeblasen, überzeichnet, gleichzeitig merkwürdig ziellos, zuweilen beinahe lethargisch. Der Kopfsatz (»Allegro«) klingt mehr nach Kirmesbesuch als nach Siegesmarsch, der anschließend in einen Erschöpfungszustand zu verfallen scheint: Der zweite Satz (»Moderato«) ist durchzogen von langatmigen Phrasen in allen Teilen des Orchesters, die müde auf und ab steigen. Im Gegensatz hierzu haben die folgenden beiden Sätze quasi kursorischen, zerstreuten Charakter: Entweder wird rastlos durch das Geschehen gehuscht (»Presto«) oder die Musik besteht fast ausschließlich aus einem Solo des ersten Fagotts (»Largo«). Das Finale (»Allegretto«) ist vieles, aber sicherlich nicht Freude und Götterfunken.
Robert Eisinger
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Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Julia Grabe
Lektorat:
Heidi Rogge
Die Texte von Robert Eisinger sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.