Aurora Orchestra
Alena Baeva Violine
Nicholas Collon Dirigent
Daniel Cremer Moderation
28.8.– 27.9. 2025
Aurora Orchestra
Alena Baeva Violine
Nicholas Collon Dirigent
Daniel Cremer Moderation
Begrüßung
Katja Dörner, Oberbürgermeisterin Bonn
Nathanael Liminski, Chef der Staatskanzlei NRW
Steven Walter, Intendant Beethovenfest Bonn
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Violinkonzert D-Dur op. 61
I. Allegro ma non troppo
II. Larghetto – attacca
III. Rondo (Allegro)
Pause
Dmitri Schostakowitsch (1906–1975)
Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47
I. Moderato
II. Allegretto
III. Largo
IV. Allegro non troppo
Nach dem Konzert laden wir im Foyer zum Feiern ein, mit Musik von Jakob Nierenz, Lukas Akintaya und Jesse Francis.
2025 bietet das Beethovenfest unter dem Motto »Alles ultra« außergewöhnliche Erfahrungen und Begegnungen. Das Eröffnungskonzert ist dafür ein wunderbares Beispiel – in mehrfacher Hinsicht. Es stellt mit Ludwig van Beethoven und Dmitri Schostakowitsch zwei Komponisten gegenüber, die beide auf ihre Weise »ultra« waren – als musikalische Grenzgänger und Revolutionäre. Ihre Werke verhandeln große Menschheits-Themen im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Beide Künstler strebten nach Freiheit und entwarfen Utopien in bewegten Zeiten.
Im Eröffnungskonzert trifft Beethovens in mildem Licht leuchtendes Violinkonzert, interpretiert von Alena Baeva, auf Schostakowitschs fünfte Sinfonie, mit der er auf dem Höhepunkt des Stalinistischen Terrors buchstäblich um sein Überleben kämpfte. Ungewöhnlich ist die Präsentation: Das britische Aurora Orchestra spielt die Sinfonie nämlich im Stehen und auswendig.
Mit einem sanften, fünfmaligen Pochen der Pauke beginnt Beethovens einziges Violinkonzert. Ein ungewöhnlicher Anfang – bereits diese ersten Takte dürften das Publikum der Uraufführung am 23. Dezember 1806 irritiert haben. Und dann musste es auch noch sehr lange auf den Einsatz des Solisten warten. Außerdem dehnte sich allein der erste Satz auf nahezu 25 Minuten. Eine Länge, auf die es damals sonst ganze Konzerte brachten.
Beethoven komponierte das Violinkonzert in einer für ihn ungewohnt kurzen Zeit. Erste Skizzen stammen von September und Oktober 1806, im Dezember war die Partitur fertig ausgearbeitet. Der Auftraggeber Franz Clement, Konzertmeister des Theaters an der Wien, hatte zum Einstudieren seines Soloparts nur wenige Tage. Einige Quellen sprechen sogar davon, er habe Teile des Werks mehr oder weniger ›vom Blatt‹ gespielt. Am 7. Januar 1807 dokumentierte Johann Nepomuk Möser in der »Wiener Theaterzeitung« die Reaktionen des Publikums: »Über Beethovens Konzert ist das Urteil von Kennern ungeteilt; es gesteht demselben manche Schönheit zu, bekennt aber, dass der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheine, und dass die unendlichen Wiederholungen einiger gemeiner Stellen leicht ermüden könnten.«
Der verhaltene Erfolg veranlasste Beethoven, vor der Drucklegung Korrekturen an dem hastig niedergeschriebenen Autograf vorzunehmen. Er arbeitete vor allem am Solopart, der spieltechnisch zwar höchst anspruchsvoll ist, aber ohne brillante Effekte auskommt. Beethoven hielt sich zudem nicht an die übliche Rollenverteilung zwischen Solovioline und Orchester: Die Norm war ein dominanter und virtuoser Violin-Part im Wechsel mit dem begleitenden Orchester. Beethovens Konzert ist vielmehr sinfonisch gedacht: Die Geige ist mit dem Orchester aufs Engste verwoben und übernimmt selbst stellenweise eine begleitende Funktion. Gut hörbar ist das im ersten Satz, wo die Solovioline mit vielen Figurationen die Hauptthemen im Orchester umspielt und ausschmückt.
Der lyrische zweite Satz (Larghetto) erinnert in seinem innigen Tonfall an die wenige Jahre zuvor entstandenen beiden Violin-Romanzen. Der übergangslos sich anschließende Finalsatz mit seinem volkstümlichen Thema dürfte dem Uraufführungspublikum vertrauter geklungen haben als die beiden tiefsinnigen Vorgängersätze.
Dmitri Schostakowitsch sagte über die Musik Beethovens, sie spreche »zu dem Menschen aus einer anderen Welt, und der hört und versteht seine Sprache …«. Der sowjetische Komponist stellte eine »ungewöhnliche Gemütserregung« fest, die Beethoven bei ihm auslöste.
Schostakowitschs Schaffen war geprägt vom Leben in der Diktatur. Die Politik zwang ihn in widersprüchliche Rollen: Er galt einerseits als gefeierter Staatskünstler, andererseits wurde er als ›Formalist‹ verunglimpft – ein lebensbedrohlicher Vorwurf. Seine fünfte Sinfonie entstand zur Zeit des Großen Stalinistischen Terrors, nachdem er mit seiner Oper »Lady Macbeth von Mzensk« in Ungnade gefallen war. Seine vierte Sinfonie hatte er wegen eines kritischen »Prawda«-Artikels von 1936 – den Stalin als Reaktion auf die Oper selbst geschrieben haben soll – zurückgezogen. Im April 1937 begann er auf der Krim die Arbeit an der fünften Sinfonie.
Zurück in Leningrad erfuhr er von der Deportation seiner Schwester nach Sibirien und vollendete die Sinfonie im Juli 1937. Die Uraufführung in Leningrad war ein triumphaler Erfolg. Das Werk wurde als die Rückkehr des verlorenen Sohns zur linientreuen Kulturpolitik gewertet, das Marschfinale gar als Verherrlichung des Regimes gehört. Schostakowitschs Musik operiert jedoch mit doppeltem Boden. Auch wenn er seine Fünfte offiziell als eine »praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik« bezeichnete, behauptete er dagegen in seinen in ihrer Echtheit umstrittenen Memoiren, dass der Triumphmarsch in Wirklichkeit ein Todesmarsch sei:
»Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen. […] So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr! Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.«
– Dmitri Schostakowitsch
Das Aurora Orchestra verfolgt seit 20 Jahren den Plan, klassische Orchestermusik zugänglicher zu machen und die Präsentationsform von Konzerten aufzulockern.
Unter seinem Gründer und Chefdirigenten Nicholas Collon hat es sich zu einer festen Größe in der britischen und internationalen Orchesterszene entwickelt. Das Ensemble ist ein Pionier der Idee, bedeutende Werke der klassischen Orchesterliteratur auswendig zu spielen. Es war das erste Orchester weltweit – inzwischen gibt es Nachahmende –, das auch die physischen Barrieren zur Musik abbaute, indem es Notenblätter und -ständer abgeschafft hat.
Die Fagottistin Amy Harman ist seit elf Jahren Mitglied im Aurora Orchestra. Sie schätzt das auswendige Spielen: »Das macht aus dem Musikmachen eine komplett andere Erfahrung. Wir alle kennen die ganze Partitur und das macht den Spirit so besonders.«
Das auswendige Spielen bietet neue Freiheiten, aber die Voraussetzung dafür ist ein tieferes Verständnis des jeweiligen Werks, bestätigt Amy Harman: »Du kannst nicht nur deinen Part kennen, sondern du musst dich auf jede:n andere:n verlassen.«
Ein großes sinfonisches Werk so einzustudieren, ist eine enorme Herausforderung – doch es lohnt sich, weiß Amy Harman: »Es gibt dir Leben. Du hast plötzlich diese andere Energie. Es ist sehr befreiend. Und wenn du das Werk auf diese Weise kennenlernst, dann merkst du, wow! Sie ist wirklich so groß, diese Musik.«
Nicholas Collon gründete das Aurora Orchestra vor 20 Jahren – etwa 40 Prozent des erarbeiteten Repertoires wird auswendig präsentiert. Worin sieht er den größten Vorteil dieser Spielweise? »Für die Musiker:innen ist es das Verständnis für die Musik, das tiefer und intensiver ist. Für ein Stück wie Beethovens Neunte brauchen einige von ihnen sicher 70, 80 Stunden Vorbereitung. Aus Sicht des Publikums ist der größte Unterschied die Kommunikation.«
Anders als beim traditionellen Orchestersetting hat man hier viel stärker den Eindruck von musizierenden Individuen. Collon bestätigt das: »Es demokratisiert! Denn alle Violinen werden gleich wichtig, weil jede einzelne das Orchester in ein Desaster bringen könnte. Und plötzlich ist jede von ihnen entscheidend. Wir haben hier nicht so ein Gefühl von Hierarchie.«
Mit der wachsenden Erfahrung des Orchesters verschoben sich die Grenzen des Machbaren immer weiter, so Collon: »Ich dachte noch vor Jahren, dass ›Le Sacre‹ von Strawinsky unmöglich auswendig spielbar wäre, aber es ging gut. Wenn man eine Menge Zeit damit verbringen soll, Musik auswendig zu lernen, muss sie einen wirklich begeistern – dann ist die Motivation da.«
Mit Schostakowitschs fünfter Sinfonie würden die Musiker:innen einen weiteren Gipfel des Repertoires erklimmen, bestätigt der Dirigent. »Es ist eine so unglaublich kraftvolle Sinfonie, die heute noch genauso aktuell ist wie 1937 bei ihrer Uraufführung. Wir sind begeistert, dass wir dieses Werk auswendig spielen, um es so nah wie möglich am Herzen zu haben und jeden Winkel so tief wie möglich zu erkunden. Wenn ich dieses Stück dirigiere, habe ich immer das Gefühl, dass es eine ganz besondere Verbindung zum Publikum gibt – wegen der Intensität der Emotionen.«
Regine Müller
Welche Beziehung hast Du zu Beethovens Violinkonzert? Kann sein gewaltiges Erbe auch einschüchtern?
Alena Baeva: Dieses Stück ist in gewisser Weise allen anderen Violinkonzerten überlegen – ob man es spielt oder hört. Es ist wie ein majestätischer Berg: Aus der Ferne wirkt er einschüchternd, aber je näher man ihm kommt und je besser man ihn kennt, desto einladender erscheint er.
Du spielst auch mit Barockorchestern zusammen. Beeinflusst das Deine Beethoven-Interpretation?
Absolut. Zu Beethovens Zeit hatten Solist:innen viele Freiheiten. Mit der eigenen Fantasie verschönerte man die Haltepunkte im Stück, sogenannte Fermaten. Man variierte das Tempo und schmückte die Wiederholungen von Teilen anders aus. Heute haben sich ganz andere Normen durchgesetzt: Geiger:innen legen Wert auf einem lauten, durchdringenden Klang mit reichhaltigem Vibrato. Abweichungen vom Tempo und der Partitur sind nicht üblich. Solche Standards wurden durch den Aufschwung der Schallplattenindustrie im 20. Jahrhundert quasi in Stein gemeißelt.
Ich möchte im Gegensatz dazu die Gelegenheit nutzen, dieses Violinkonzert neu zu entdecken. Besonders gern spiele ich dabei Beethovens eigene Kadenzen, also die virtuosen Zwischen-Abschnitte der Solovioline ohne Orchesterbegleitung. Er hat sie für seine eigene Klavierbearbeitung des Konzerts geschrieben. Ich finde, diese Kadenzen klingen modern und verrückt! Wer schreibt schon eine Kadenz, wo unvermittelt Pauken und Marschmusik auftauchen? Diese Kadenzen erinnern uns einmal mehr daran, dass Beethoven nach Extremen suchte und sich nicht an strenge Regeln hielt.
Du stammst aus Kirgisistan und lebst heute in Luxemburg. Was bedeutet Dir Heimat?
Als ich klein war, habe ich alle fünf Jahre meinen Wohnort gewechselt. In Luxemburg lebe ich bisher am längsten, schon 15 Jahre. Hier habe ich endlich ein Gefühl von Heimat. Meine Familie floh aus meiner kirgisischen Heimatstadt Osch vor einem Bürgerkrieg. Wir wohnten in Kasachstan, später ging es weiter nach Moskau. Ich habe viele Stationen durchlebt, die ganz anders waren als Luxemburg. Hier sind verschiedene Nationalitäten und Ethnien willkommen und respektiert, was ich sehr schätze.
Einer Deiner wichtigsten Mentoren war der Cellist Mstislaw Rostropowitsch. Wie hast Du ihn kennengelernt und wie hat er Dein musikalisches Schaffen beeinflusst?
Rostropowitsch hat mich bereits durch seine Aufnahmen geprägt. Ich lernte ihn in meiner Schulzeit in Moskau kennen. Als Stipendiatin der Rostropowitsch-Stiftung spielte ich regelmäßig Konzerte, zu denen der Maestro kam. Ich glaube, ich habe eine Sonate von Francis Poulenc gespielt, als er mich zum ersten Mal hörte. Er schlug vor, dass ich in Paris studieren sollte. Dafür vermittelte er mir eine befreundete Familie in Chartres als Gastfamilie. Mein Lehrer dort war Boris Garlitsky. Rostropowitsch selbst kam immer wieder nach Paris, um mich zu unterrichten. Einiges von dem, was er von meinem Spiel forderte, versuche ich immer noch umzusetzen. Ich sehe ihn als strahlenden Visionär, der der Welt seine ansteckende Energie und Freude schenkte.
Wenn Du nicht Geigerin geworden wärst – was hättest Du dann gewählt?
Das ist einfach: Ich wäre Ärztin geworden.
Du bist dafür bekannt, dass Du ein außerordentlich breites Repertoire an Violinwerken auf der ganzen Welt aufführst. Erzähle uns von Perlen, die Deiner Meinung nach zu wenig Beachtung finden!
Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts waren reich an großartigen Stücken, die rein zufällig nicht so populär wurden wie andere. Aus dieser Zeit spiele ich sehr gerne das Konzert von Richard Strauss, das Konzert von Mieczysław Karłowicz, beide Konzerte von Karol Szymanowski und die Konzertsuite von Sergei Tanejew. Auch die Konzerte von Karl Goldmark und Felix Weingartner waren interessante Begegnungen.
Wir – das Beethovenfest Bonn – laden ein, in einem offenen und respektvollen Miteinander Beethovenfeste zu feiern. Dafür wünschen wir uns Achtsamkeit im Umgang miteinander: vor, hinter und auf der Bühne.
Für möglicherweise auftretende Fälle von Grenzüberschreitung ist ein internes Awareness-Team ansprechbar für Publikum, Künstler:innen und Mitarbeiter:innen.
Wir sind erreichbar über eine Telefon-Hotline (+49 (0)228 2010321, im Festival täglich von 12–20 Uhr) oder per E-Mail (awareness@beethovenfest.de).
Werte und Überzeugungen unseres Miteinanders sowie weitere externe Kontaktmöglichkeiten können hier auf unserer Website aufgerufen werden.
Das Beethovenfest Bonn 2025 steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst.
Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Julia Grabe
Lektorat:
Heidi Rogge
Die Texte von Regine Müller sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.