Wenn es nach dem Satz von Christoph Ransmayr möglich ist, dass die Welt durch das Reisen nicht immer kleiner, sondern immer größer wird, so muss es auch möglich sein, dass die Welt durch die Abgeschiedenheit der letzten zwei Jahre nicht immer einsamer, sondern immer gemeinschaftlicher geworden ist. Benedikt Kristjánsson wird zum Abschluss seiner Residenz beim Beethovenfest 2022 nach der »Johannespassion« in Triobesetzung und seinem Projekt »JUDAS« Franz Schuberts Winterreise vierundzwanzig Stunden, also eine Nacht und einen Tag, singen und immer wieder singen. Der Konzertabend des 10. Septembers 2022 beginnt im Viktoriabad Bonn mit einem ersten Durchgang der Winterreise, zunächst zusammen mit dem Pianisten Fabian Müller. Auf den ersten Durchgang folgt unmittelbar – und ohne Pause – ein zweiter, dann ein dritter, ein vierter und so viele weitere, wie möglich sind. Bis Kristjánsson schließlich eine letzte Winterreise am darauffolgenden Sonntag um achtzehn Uhr, wiederrum mit dem Pianisten Fabian Müller, in der Kleinen Beethovenhalle singen wird.

Kristjánsson wird ab dem zweiten Durchgang der Winterreise allein auf der Bühne stehen und immer weiter singen. Er verweigert dem Publikum die Möglichkeit zu applaudieren und ordnungsgemäß zu gehen, was an die Szene in Miloš Formans »Der Mondmann« erinnert, als der Anti-Komiker Andy Kaufman seinem Publikum anstelle eines Stand-Up-Programmes den vollständigen »Großen Gatsby« von F. Scott Fitzgerald vorliest. Im Film denkt das Publikum zunächst, dass die Dauerlesung ein Scherz sei und bald enden müsse, bis nach einem Schnitt in die Morgenstunden des nächsten Tages sichtbar wird, dass nur noch eine Handvoll Menschen halb schlafend, halb kauernd, Kaufman bei den letzten Sätzen zuhört. Der größte Teil des Publikums war verschwunden, ein müder Applaus beendet die Lesung, beendet die Nacht. Ähnlich könnte der Abend im Viktoriabad ablaufen, nur dass für Benedikt Kristjánsson das letzte Lied und der letzte Vers stets ein neuer Anfang ist.

Welch ein thörichtes Verlangen
Treibt mich in die Wüstenein?
Kristjánsson wird die Bühne in der Nacht nicht verlassen. Zu jeder Stunde sind zehn Minuten Pause vorgesehen, auf der Bühne wird eine Toilette stehen. Diese Art der Selbstausleuchtung, die mit den innersten Prozessen wie des Verliebens oder dem Sterben vergleichbar ist, ist eine Ausstellung der diskretesten Augenblicke. Ein Publikum ist dabei normalerweise nicht vorgesehen, was den Begriff der Zeitgenossenschaft eindrucksvoll ausdeutet. So werden vierundzwanzig Stunden zur Reise ins Ich, bei der nichts sicher ist. Sicher ist nur, dass Kristjánsson in das Exil der Nacht aufbrechen wird.
Eine Straße muß ich gehen,
Die noch Keiner ging zurück.
Nach einigen Stunden ununterbrochenen Singens im Viktoriabad wird Kristjánsson am nächsten Morgen den Ort des Konzertes verlassen, ohne dass das Konzert aufhört. Was dann passiert, steht im unmittelbaren Gegensatz zum Wesen eines Lieder-Konzertes: Benedikt Kristjánsson wird irgendwann allein singen und allein sein. Dem Lied wird nicht nur seine kommunikative Basis genommen, sondern durch die eintretende Erschöpfung auch ihre genussvolle. Der Sänger singt nicht mehr, um Freude zu haben, sondern opfert sich.
So zieh’ ich meine Straße
Dahin mit trägem Fuß
In einem kurzen Handyvideo spricht Kristjánsson von einer »Verwandlung«, die am Ende der vierundzwanzig Stunden stehen werden. Man fragt sich, ob er dabei die Verwandlung seiner Stimme meint, oder die Verwandlung von Publikum zu Leere, von Abend zu Nacht zu Tag, von Freude zu Erschöpfung. Als Einzelner unter vielen geht Kristjánsson dahin, acht Kilometer ist die Kleine Beethovenhalle vom Viktoriabad entfernt, acht Kilometer allein in Gesellschaft.

Was soll ich länger weilen,
Bis man mich trieb’ hinaus?
Ob er an einem Lindenbaum vorbeikommen wird, an der Post oder am Wirtshaus, ob er am Ende den Leiermann sehen wird, weiß niemand. Wird die Erschöpfung, die eintritt, zur Last oder zur Leichtigkeit? Das unbekannte Terrain der völligen Erschöpfung ist für den Sänger ein Spiel mit der eigenen Zerstörung, weil das Problem mit schönen Dingen ist, dass sie irgendwann aufhören. Denn wenn sie nicht aufhören, wird aus Schönheit Wahnsinn – Momente, in denen es interessant wird.
Scheitern als Chance,
und es leuchten die Sterne.
Die totale Verausgabung und Verschwendung werden zu einer neuen künstlerischen Kraft, zu einem neuen Abschnitt seines Schaffens, in der die notwendige Einsamkeit des Menschen zum Ausdruck kommt. Wobei die Einsamkeit kein plötzliches Gefühl ist, sondern hochgradig vergleichend. Einsamkeit braucht Erinnerungen an eine Zweisamkeit, Mehrsamkeit, oder an ein Publikum und ein daraus entstehendes Gefühl des alleine-Seins und des Verlustes. Letztendlich ist die Einsamkeit wie ein Spiegel – ohne jemanden, der hineinschaut, bliebe sie leer.

Vom Abendroth zum Morgenlicht
Ward mancher Kopf zum Greise.
Kristjánssons Winterreise steht in der Tradition einer alten, vor-romantischen Einsamkeit, bei der nicht das verlusthafte Schicksal im Zentrum steht, sondern die Einsamkeit als gewählter Weg zum Selbst verstanden wird. Das alte Konzept war der geplante und gewollte Rückzug, dessen bekannteste Form der Eremit ist. Seine Natur ist die Stille, seine Bewegung die Flucht. Auf die Frage, warum er die Winterreise vierundzwanzig Stunden singen wolle, was der Sinn dahinter sei, konnte Kristjánsson im Podcast des Beethovenfestes »bee.contemporary« keine rechte Antwort geben, weil er selbst noch nicht weiß, was passieren wird. Doch störe ihn bei Liederabenden der Winterreise häufig, dass ein »wohlhabender Sänger im Frack Gästen mit Weinglas« Schuberts erschütternde Musik vortrage, aber nicht im Geringsten ein Gefühl der Erschütterung entstünde. Kristjánsson hebt stattdessen die Grenzen des Kunstwerks auf und versenkt sich in ihm. Er wendet das in musealen Ausstellungen gerade so angesagte Konzept der Immersion an, indem er Schuberts Anliegen der Einsamkeitserfahrung ausreizt, denn Einsamkeit entsteht nicht in siebzig Minuten.
Soll denn kein Angedenken
Ich nehmen mit von hier?
Das Motto des diesjährigen Beethovenfestes wird dadurch auf die Probe gestellt. »Alle Menschen« werden Kristjánsson nicht begleiten können. »Alle Menschen« singen auch nicht geleichzeitig, die Winterreise ist ja kein Chor, aber »alle Menschen« haben die Möglichkeit Zeugen einer Verwandlung zu werden. Wenn das Publikum die Entscheidung trifft, den Sänger allein zu lassen, wird es sich in seiner Zusammensetzung verwandeln. Künstler und Publikum werden vermutlich mit denselben Gefühlen von Konzentrationsschwäche und Erschöpfung, Euphorie und Redundanz, Verbrüderung und Vereinzelung konfrontiert werden, die alle zu den Erfahrungen der condition humaine gehören. Dass vierundzwanzig Stunden ein ganzes Menschenleben bedeuten können, macht man sich viel zu selten bewusst. Niemand hat das besser erkannt als James Joyce vor genau einhundert Jahren, dessen »Ulysses« in derselben Zeiteinheit spielt, wie Kristjánssons einsame Reise. Am Ende dieser Tages- und Nachterzählung, dieses Reise- und Verwandlungbuchs, steht Molly Blooms langer Schlussmonolog mit dem lebensbejahenden »Ja«. Wir dürfen uns fragen, was die vierundzwanzig Stunden der Winterreise Kristjánsson erzählen lassen werden.
»Ich war dabei!« ist der Satz, den man einmal über Kristjánssons Winterreise in Bonn sagen wird.
Und Morgen früh ist Alles zerflossen. —