Raschelndes Bonbonpapier, das Atmen der Nebensitzerin, der kleine Huster zwei Reihen weiter hinten: Im Dunkeln wirken die Geräusche intensiver. Beinahe dreidimensional dringen sie in die Schwärze, die es unmöglich macht, sich visuell zu orientieren. Aber dann, wie aus dem Nichts, erklingt Musik: ein Streichquartett. Niemand sieht, wie sich die Musiker bewegen, wie sie aussehen. Doch ihre Klänge vibrieren im Raum, erfüllen die Fantasie mit Farben und Formen. Was zu Beginn beklemmend wirken kann, entpuppt sich zur bewusstseinserweiternden Erfahrung. Wenn sich die Sehkraft nicht in den Vordergrund spielt, kann das Gehör die Welt begreifen.
Die Idee eines Dunkelkonzerts ist nicht neu. Beim Beethovenfest aber entsteht derzeit ein solches Format mit Partnern, die sich im Dunkeln ganz selbstverständlich bewegen: blinde und sehbehinderte Menschen. Allzu oft werden sie in der Öffentlichkeit auf ihre Einschränkung reduziert und als hilfsbedürftig angesehen; spannende Kulturangebote für die Zielgruppe sind rar. In Bonn entwickelt eine Gruppe aus jungen, blinden Menschen einen Abend mit dem Vision String Quartet, der den Hörsinn schärfen und gleichzeitig Fragen aufwerfen soll. Was bedeutet Zuhören überhaupt? Und hört man wirklich anders, wenn man nicht sieht?
Üblicherweise trüge ein solches Konzert beim Beethovenfest die Überschrift »Education«: Achtung, jetzt wird’s experimentell! Das ändert sich unter der neuen Intendanz von Steven Walter. Anstatt die Veranstaltungen in unzählige Kategorien einzuordnen, gibt es ein Programm. Das sinfonische Konzert steht darin gleichwertig neben dem Workshop, das Kinderkonzert neben der Performance.
»Das Anliegen der sogenannten Musikvermittlung ist es ja, Nähe zu schaffen, Kontakt herzustellen und einen Kontext zum Gehörten zu liefern«, sagt Steven Walter. »All das sollte man meiner Meinung nach bei jedem Konzert anstreben.«
Was nach einer idealistischen Vision klingt, wird derzeit an den Schreibtischen des Beethovenfestes in die Realität umgesetzt. Die Musikvermittlung bildet kein abgegrenztes Fachgebiet innerhalb der Programmplanung; das gesamte Team ist motiviert, mitzudenken. Das verändert die Arbeitsabläufe, sagt Marion Leuschner, die sich seit 2016 hauptverantwortlich um die Musikvermittlung kümmert: »Viele Veranstalter schmücken sich gerne mit sogenannten Education-Angeboten, während das Hauptprogramm unverändert weiterläuft. Beim Beethovenfest soll der Vermittlungsgedanke in die komplette Institution integriert werden.«
Für diesen langfristig angelegten Strukturprozess wurde bereits ein Förderer gewonnen. Die Commerzbank Stiftung unterstützt das neuartige Vorhaben, dessen Grundgedanken Steven Walter folgendermaßen zusammenfasst:
»Es gibt keine Vermittlung mehr, weil alles Vermittlung ist.«
Dennoch existieren Bereiche im Programm, die durch ihren vermittlerischen Ansatz hervorstechen: die Formate unter der Überschrift »Beethovenfest Inside«. Hier werden verschiedene Akteur:innen eingeladen, das Festival als Co-Produzenten mitzugestalten, wie etwa bei einer Kooperation mit dem Theater Marabu: Für das Viktoriabad ent-steht ein Musiktheaterstück zum Thema »Wasser«, bei dem Studierende ganz unter-schiedlicher Disziplinen aus dem Ruhrgebiet und Köln beteiligt sind. Sie steuern Kompositionen bei, erforschen den Umgang mit Wasser auf der Bühne und überlegen sich, wie Bonner Grundschulklassen an das Konzert herangeführt werden können. Dabei entspinnen sich neue Netzwerke, die Beteiligten lernen voneinander, tauschen Wissen aus und reflektieren gemeinsam über ihre Tätigkeitsfelder.
Beim Geheimkonzert des diesjährigen Festivals wird erst einmal gar nichts verraten: weder der Ort, noch die gespielten Werke, noch die Musiker:innen. Lediglich Datum und Uhrzeit stehen auf dem mysteriösen Ticket. Per App bekommen die Gäste dann eine Benachrichtigung, wo sie sich zum entsprechenden Zeitraum einfinden sollen. Das Konzert als Abenteuerspiel – für Neugierige und alle, die Wundertüten lieben.
Entwickelt wurde das Format von den Schülermanagern, einer Gruppe Jugendlicher, die für das Festival ein Konzert kreieren. Von der Pressearbeit über das Marketing bis hin zur Künstlerbetreuung organisieren sie alles. Dabei hat jede:r ein professionelles Pendant im Team des Beethovenfestes, beispielsweise im künstlerischen Betriebsbüro.
Diese Arbeitsweise begeistert Lea Kuron, die im Jahr 2016 bei den Schülermanagern mitgearbeitet hat: »Es ist ja ein Peer-to-Peer-Projekt. Die Frage dahinter ist: Warum sollten Erwachsene Konzepte für Jugendliche machen, wenn doch die Jugendlichen viel besser wissen, was sie interessiert?«
Beim Geheimkonzert kommen mehrere Generationen von Schülermanagern zusammen: die aktuelle Gruppe sowie eine Auswahl von Ehemaligen, die mittlerweile eigene Aktionen auf die Beine gestellt haben. Intensive neun Monate verbringen die jungen Manager im Festivalbetrieb – eine prägende Erfahrung. »Es war eine Zeit, in der man über sich hinauswachsen konnte«, erzählt Sophie Tollmann, die 2019 als Schülerin mit dabei war. »Den Jugendlichen wird bewusst gemacht, dass sie Unglaubliches auf die Beine stellen können. Hier habe ich eine echte Begeisterung dafür entwickelt, mich zu engagieren.«
Schlüsselfiguren in diesem Prozess sind die beiden Projektleiterinnen Marion Leuschner und Lydia Kappesser. Sie unterstützen die Jugendlichen in der Planung, halten die Gruppe zusammen. Vor allem aber sind sie zwei Erwachsene, die Vertrauen in die jungen Menschen setzen und sie ermutigen, über politische und gesellschaftliche Themen nachzudenken – Dinge, die sie wirklich beschäftigen.
»Schon zu Beginn war das ein neues, wirklich innovatives Projekt«, sagt Steven Walter. »Jetzt ist es Zeit, den nächsten Schritt zu gehen.« Der nächste Schritt, das bedeutet für ihn, noch intensiver mit verschiedenen Gruppen aus der städtischen Öffentlichkeit zu arbeiten.
Ein Beispiel dafür ist die Kooperation mit dem Jugend- und Nachbarschaftszentrum auf dem Brüser Berg, einem Stadtteil am Rande Bonns. Welche Themen die Menschen
hier beschäftigen, soll sich in einem großen Kulturnachmittag widerspiegeln, der in Zusammenarbeit mit dem dortigen Zentrum entsteht.
»Bei den »Beethovenfest Inside«-Formaten geht es nicht darum, nach einer gründlichen Recherche ein maßgeschneidertes Programm zu konzipieren, sondern darum, die Menschen in den Entstehungsprozess eines Konzertes einzubinden.«
Die künstlerischen Beteiligten sind Solist:innen des Orchesters Spira mirabilis, einer europäischen Formation. Gegründet wurde das Ensemble in dem Willen, nahbar zu sein und Kunst nicht nur auf der Bühne zu vermitteln: Weg vom Bild des anonymen Musi-kers im Frack auf der Bühne, hin zu einem persönlichen Austausch auf Augenhöhe. Auf dem Brüser Berg sollen sich gleich mehrere Communities kennenlernen und zusammenarbeiten: die dort ansässige Frauengruppe, ein Jugendkreis sowie die Musiker:in-nen aus ganz Europa.
»Alle Menschen« lautet das Motto des Beethovenfestes 2022, ein verkürztes Zitat aus Friedrich Schillers berühmtem Gedicht »An die Freude«. Während die allgemeine Ver-brüderung zu Zeiten der Aufklärung zum höchsten Ideal stilisiert wurde, kann man diese Zeilen heute nicht mehr lesen oder singen, ohne sich zu fragen, wo die Schwes-tern abgeblieben sind, oder jene, die sich weder als Schwester noch Bruder begreifen.
Das Beethovenfest will ein Fragezeichen hinter die beiden Worte setzen und sich mit einem sehr bunten Programm auf die Suche begeben – nach all jenen, die bisher zu wenig gehört wurden.
»Bonn ist eine Stadt mit vielen Identitäten«, meint Steven Walter. Deren Bedürfnisse zu verstehen, ihrer Vielfältigkeit Rechnung zu tragen, ist ein Ziel, das sich das Beethovenfest für diese Saison gesetzt hat. Damit sichern sich die Veranstalter auch ihren eigenen Platz in der Stadtgemeinschaft: Nur ein Festival, mit dem sich die Men-schen tatsächlich identifizieren, kann seine Relevanz auch in Zukunft behaupten.