B’Rock Orchestra
Evgeny Sviridov Violine & Leitung
5.9.-3.10. 2024
B’Rock Orchestra
Evgeny Sviridov Violine & Leitung
Georg Friedrich Händel (1685–1759)
»Wassermusik«-Suite Nr. 1 HWV 348
1. Overture. Largo – Allegro
2. Adagio e staccato
3. Allegro
4. Andante espressivo – Allegro. Da capo der Nr. 3
5. Presto
6. Air. Presto
7. Minuet
8. Bourée. Presto
9. Hornpipe
10. Allegro moderato
»Wassermusik«-Suite Nr. 2 HWV 349
11. Allegro
12. Alla Hornpipe
13. Minuet
14. Lentement
15. Bourée
Henri-Jacques de Croes (1705–1786)
Violinkonzert op. 1/2
I. Vivace
II. Adagio
III. Allegro
Georg Friedrich Händel
»Wassermusik«-Suite Nr. 3 HWV 350
16. Sarabande
17. Rigaudon. Presto
18. Rigaudon
19. Minuet 1
20. Minuet 2
21. Gigue 1
22. Gigue 2
Sind Ihnen schon mal Stromschnellen im Mund zusammengelaufen?
Wie es scheint, brauchte der britische König George I. im Sommer 1717 etwas, das heutzutage der Sound der In-Ears bei einer Fahrt mit der U-Bahn ist: Musik als Zeitvertreib für eine Strecke von A nach B; in seinem Fall zu einem Dinner. Vielleicht als Berieselung, vielleicht, um darin zu versinken. Doch die »Wassermusik«, die Georg Friedrich Händel auftischte, ist nichts, was einfach nur dahinplätschert – im Gegenteil. Die französische Suite war der ›Dancefloor‹ des 18. Jahrhunderts. Eine Reihe von Tanzsätzen, mal ruhiger im Gestus, mal bewegter. Händel aber lässt es krachen. Auch Tanzwütige unserer Zeit dürften auf der Themse 1717 mindestens innerlich mitgewippt haben. Denn der Funke und das Feeling dieser royalen ›Late Night Playlist‹ springen definitiv über. Nicht umsonst ließ George I. die neuen Stücke von Händel an diesem Abend gleich mehrfach wiederholen. Oder wie es in einem Album von Madonna heißt: »Get into the groove.«
Die absurde Zahl von über 200 Einspielungen, die heute vorliegen, offenbart die grenzenlose Popularität von Georg Friedrich Händels »Wassermusik«. Diese begann bereits am 17. Juli 1717 vor den Ohren des Königs, der etwas erbat, das heute eher als ›binge listening‹ durchginge: Die Musik musste ständig wiederholt werden. George I. konnte davon einfach nicht genug bekommen. Denkbar ist aber, dass die Wiederholung zum Essen primär verlangt wurde, weil die königliche Hoheit die Musik zu Wasser zwar schätzte, doch von seinem Boot aus kaum auch nur eine musikalische Phrase vom anderen Boot des Orchesters deutlich zu vernehmen war. Die Themse in London erstreckt sich über eine Breite von mehr als 200 Metern. Da es auf der Hinfahrt stromaufwärts ging, musste vermutlich gerudert werden. Bei einem ganzen Orchester in einem Boot braucht es zum Vorwärtskommen mehr als nur ein Paar Riemen. Irgendwo mussten zudem Noten stehen und gelesen werden, bei Wellenbewegung, Strömungen und Ruderkräften. Nicht auszuschließen, dass sogar Händel selbst um eine Wiederholung seiner Musik an Land bat, da sie zu Wasser vermutlich nicht gerade konzertreif vorgetragen werden konnte.
Händel war bei George I. schon 1710 in Anstellung, als dieser noch Kurfürst von Hannover war. Für den 1714 ernannten König des britischen Empire war nur das Beste gut genug. Und Händel lieferte es. Seine »Wassermusik« ist erhaben und verspielt zugleich, intim und rasant, voll des Jubels, opulent instrumentiert und abwechslungsreich allerorten. Geschickt gelingen Händel immer wieder Steigerungen des Spannungsbogens, der sich über die gesamte Komposition erstreckt.
Ein Blick in den zweiten Satz der F-Dur-Suite offenbart Händels Meisterschaft. Diese »Hornpipe« ist überwiegend in 4er-Gruppen gegliedert, wird aber mit einer 5-Takt-Gruppe eröffnet, die unterschwellig irritiert: War das eben nicht ein Motiv zu viel? Dies wird umgehend geglättet, da die nächste Gruppe auch wieder fünf Takte misst. Händel eröffnet mit ungeraden Aussagen, und die Aufmerksamkeit steigt. Ungerade ist unerwartet. Ähnliches geschieht im B-Teil des Satzes, den Händel auch wieder mit einer 5-Takt-Gruppe beginnt. Im Fortgang mischt Händel die für die Barockzeit typische Akkordfolge in verketteten Kadenzen mit statischen Momenten; eine Mischung aus Standardschema und Spannungsaufbau. Berechenbar trifft unberechenbar.
»Am Mittwochabend, ungefähr um acht, begab sich der König bei Whitehall in eine offene Barke, in der die Herzogin von Bolton, die Herzogin von New Castle, die Gräfin von Godolphin, Madame Kilmasegg und der Graf von Orkney waren, auf eine Bootsfahrt. Und sie fuhren flussaufwärts nach Chelsea. Viele andere Barkassen mit Personen hohen Ranges nahmen daran teil, die Zahl der Boote war so groß, dass geradezu der ganze Fluss bedeckt war. In einem Schiff der Stadtgilde spielten die Musiker, die über 50 Instrumente jeglicher Art verfügten. Sie spielten den ganzen Weg von Lambeth (während die Boote mit der Strömung ohne Rudern nach Chelsea trieben) die schönsten, besonders für diesen Anlass von Mr. Händel komponierten Sinfonien, welche Seiner Majestät derart gefielen, dass sie auf dem Hin- und Rückweg dreimal wiederholt werden mussten. Um elf ging Seine Majestät in Chelsea an Land, wo ein Abendmahl zubereitet wurde und es sodann eine weitere Musikbegleitung gab, die bis 2 Uhr andauerte; Seine Majestät bestieg wieder Seine Barke und legte den gleichen Weg zurück, während die Musik durchgehend erklang, bis sie an Land gingen.«
Händel brilliert sowohl in seiner musikalischen Ausgestaltung als auch bereits in den Kernaussagen der einzelnen Sätze. Die Ouvertüre in ihrem majestätischen Duktus ist meisterhaft umgesetzt und operiert im Fugenteil mit piano-forte-Effekten (laut–leise) und schroffen Einfällen des gesamten Orchesters. Etliche Triller und Tonrepetitionen in den nächsten Sätzen verleihen der Musik ihre ungeheure Leichtigkeit, klanglich veredelt durch das Paar Hörner als Freiluftinstrument schlechthin. Insgesamt erschafft Händel in seiner »Wassermusik« einen Kosmos an genialen Einfällen, die fast ausnahmslos ein und derselben Prämisse entspringen: Melodien! Schlicht geführte Linien kommen zu Gehör, griffig und schmissig. Für ein gepflegtes Headbangen vielleicht zu wenig, aber wie geschaffen fürs Mitwippen mit dem Fuß und Vor-sich-hin-Trällern Stunden später.
Was wohl heutzutage aus solch einer Darbietung würde? Livemusik bei einem Ausflug der ›Royals‹, millionenfach gestreamt, für ein Milliardenpublikum rund um die Welt? Schon vor über 300 Jahren musste im Orchester gut zusammengespielt werden, ohne Wenn und Aber. Im Publikum galt das Zuhören als gemeinsames Ganzes schon damals. Jeder für sich, und doch alle zusammen. Und schon 1717 war der Ausflug des Königs wohl bereits keine kleine Angelegenheit, heute eher vergleichbar mit dem Hamburger Hafengeburtstag. Zeitgenössischen Berichten zufolge waren die Schiffe rundherum nicht mehr zu zählen. Alle wollten sie dabei sein. Ein Event für jede und jeden draußen zu Wasser oder an den Ufern der Themse.
Der Komponist Henri-Jacques de Croes kam möglicherweise eine Generation zu spät zur Welt. Aber wer kann sich seinen Platz auf der Zeitachse des Universums schon selbst aussuchen? 1705 in Antwerpen geboren und dort in jungen Jahren als Violinist aktiv, fand er 1729 eine Stelle im Orchester der Frankfurter Residenz des Fürsten Anselm Franz von Thurn und Taxis. 1744 übernahm ihn Karl Alexander von Lothringen in seine Dienste in Brüssel, wo de Croes vom ersten Violinisten zum Kapellmeister avancierte.
Gänzlich bemerkenswert ist, dass de Croes erst in seinem Opus 5, also drei Jahrzehnte nach Komposition des heute gespielten Violinkonzerts, eine meisterhafte Beherrschung alter barocker Schreibweise demonstrierte. In diesen Triosonaten wimmelt es in einigen Sätzen von Fugenthemen, Orgelpunkten und schnellen Durchgängen. Modulationen, also Tonartwechsel auf engstem Raum, wie noch im Spätbarock üblich, waren nach 1750 allerdings nicht mehr angesagt – die Triosonaten op. 5 von 1768 wirken wie aus der Zeit gefallen. Umso erstaunlicher, dass die Violinkonzerte op. 1 des Belgiers ganz anders klingen. Das Datum 1734 bezieht sich dabei auf die Publikation der Werke, die zum Teil wohl deutlich früher entstanden sein dürften und zu jener Art von Musik gehören, mit deren Verortung wir Musikhistoriker uns bis heute schwertun. Vorklassik? Empfindsamkeit? Am ehesten lassen sich diese Kompositionen dem sogenannten galanten Stil zuordnen, indem sie barocke Komplexität weitgehend abstreifen und einen insgesamt schlichten Gestus annehmen. Einige Passagen werden wiederholt, Tonarten werden oft taktelang beibehalten, und vieles basiert auf gebrochenen Dreiklängen. Die Musik wird gefälliger. So auch das Konzert op. 1 Nr. 2, das lieblich, klar gegliedert und aufgeräumt daherkommt.
Text: Benno Hoppe
Dem B’Rock Orchestra liegt die Epoche des Barock am Herzen. Auf historischen Instrumenten erkundet es fünf Jahrhunderte der Musik in Oper, Oratorium und Instrumentalmusik von Barock bis Gegenwart.
B’Rock greift in künstlerischen Konzepten relevante Themen auf, etwa das Verhältnis von Mensch und Natur oder die Rolle der Frau in der Kunst. Sein intuitiver, ehrgeiziger und anschlussfähiger Ansatz hat es zu einem der erfolgreichsten und fortschrittlichsten historisch informierten Orchestern gemacht. Es ist Vorreiter in der Welt der Musik, des Theaters, des Tanzes und der bildenden Kunst.
Mit starken flämischen Wurzeln und Gent als Heimatbasis ist das B’Rock Orchestra in der ganzen Welt aktiv. Es ist assoziierter Künstler bei deSingel und hat langfristige Partnerschaften u. a. mit OperaBallet Vlaanderen und Opéra de Rouen. Es ist regelmäßig zu Gast im Concertgebouw Brugge, im Muziekcentrum De Bijloke Gent, im Concertgebouw und Muziekgebouw Amsterdam, in der Kölner Philharmonie und vielen anderen internationalen Sälen.
Evgeny Sviridov ist einer der gefragtesten Vertreter der mitteleuropäischen Szene Alter Musik. 1989 in St. Petersburg geboren, studierte er Geige am dortigen Konservatorium. Schon als Student wurde er Preisträger renommierter Wettbewerbe, darunter »Yehudi Menuhin« in Cardiff, »Premio Paganini« in Genua und »Jascha Heifetz« in Vilnius.
Nach seinem Studium in Russland beschäftigte Sviridov sich im Selbststudium immer mehr mit barockem Spiel – 2010 gewann er den ersten Preis beim Bachwettbewerb in Leipzig. Von 2015 bis 2017 studierte er schließlich Barockgeige in Köln, 2016 und 2017 erhielt er die ersten Preise und Publikumspreise bei dem Wettbewerb in Rouen (Concours Corneille) und dem renommierten Alte Musik Wettbewerb in Brügge (MA Competition).
Sviridov ist seit 2015 Konzertmeister bei Concerto Köln und inzwischen auch einer der Konzertmeister:innen des B’Rock Orchestra. Seit 2017 tritt Evgeny Sviridov immer häufiger und prominenter als Solist auf. Dabei begrenzt sich sein Repertoire nicht auf Barockes, sondern dehnt sich seit einiger Zeit immer weiter in die Klassik und Romantik aus.
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Das Beethovenfest Bonn 2024 steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst.
Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Noomi J. Bacher
Die Texte von Benno Hoppe sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.