NDR Vokalensemble
Stimming Elektronik
Klaas Stok Dirigent
5.9.-3.10. 2024
NDR Vokalensemble
Stimming Elektronik
Klaas Stok Dirigent
Einojuhani Rautavaara (1928–2016)
»Litanian Ektenia« & »Hartauden Ektenia« aus »Vigilia«
Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621)
»Miserere mei, Domine«
Maurice Ravel (1875–1937)
»Ronde« aus »Trois Chansons«
Leoš Janáček (1854–1928)
»Kačena divoká«
Orlando Gibbons (1583–1625)
»The Silver Swan«
Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Alleluja aus der Motette »Lobet den Herrn, alle Heiden« BWV 230
Peter Tschaikowski (1840–1893)
»Legenda« aus »Sechzehn Kinderlieder« op. 54/5
John Dowland (1563–1626)
»Flow my tears« auf Stimming: »22degree halo«
Franz Liszt (1811–1886)
»O Traurigkeit« aus »Via Crucis«
Martin Stimming (*1983)
»November Morning«
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
»Bitten« op. 48/1
Es erwarten uns musikalische Grenzerfahrungen: Das renommierte NDR Vokalensemble trifft unter der Leitung von Klaas Stok auf den innovativen Elektronik-Künstler und Producer Stimming. Die Aufführung, die im Rahmen des Fellowship-Programms des Beethovenfests stattfindet, verbindet traditionelle Chormusik mit modernen elektronischen Klängen. In einem faszinierenden Erlebnis werden die Zuhörer:innen mit auf eine Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart genommen.
Das Konzert thematisiert Erbarmen und schöpft seine Inspiration aus Leoš Janáčeks Chorwerk »The Wild Duck« (Die Wildente). In einem fein abgestimmten Zusammenspiel von Chorgesang und Elektronik wird Musik verschiedener Epochen neu interpretiert. Dabei stehen zentrale Werke wie das »Miserere mei, Deus« von Sweelinck oder die Musik Bachs im Fokus, die durch subtile elektronische Akzente eine neu gestaltete emotionale und atmosphärische Tiefe gewinnen. So gelingt es Stimming, neue Perspektiven auf traditionelle Musik zu eröffnen und ihre spirituellen Dimensionen einmal anders zu beleuchten.
Die Kooperation zwischen dem NDR Vokalensemble und Beethovenfest-Fellow Stimming ist das Ergebnis einer intensiven Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen. Klassische Chormusik, die oft durch ihre gesangliche Unmittelbarkeit, aber auch das Streben nach stimmlicher Reinheit und durchhörbarer musikalischer Struktur besticht, wird durch elektronische Klänge ergänzt. Der Produzent erklärt im Gespräch:
»Ich stelle das gleichbedeutend nebeneinander. Die eigentliche Musik und meine Elektronik sind ungefähr 50-50. Das ist vor allem Chormusik – mit Elektronik.«
Die Zusammenarbeit zwischen dem NDR Vokalensemble und Stimming erforderte intensive Proben und ein tiefes gegenseitiges Verständnis: »Die musikalische Geschichte muss gut erzählt werden. Kein Gefuddel, kein nutzloses Drumherum, alles muss sehr klar sein,« betont Stimming. Diese Klarheit ist entscheidend, um die emotionale Kraft der Musik voll zur Geltung zu bringen.
Die Verbindung von Chormusik und Elektronik stellt besondere Anforderungen an die Sänger:innen des Vokalensembles. Sie müssen sich nicht nur auf die präzise Intonation und die harmonische Komplexität der Chorwerke konzentrieren, sondern oft auch auf die unvorhersehbaren Elemente der elektronischen Musik reagieren. Dafür brauchen sie ein hohes Maß an Flexibilität und die Bereitschaft, die elektronischen Klänge gewissermaßen zu atmen und als integralen Bestandteil ihrer Aufführung zu akzeptieren.
Das Thema Erbarmen zieht sich wie ein roter Faden durch das Konzert. Es wird nicht nur musikalisch, sondern auch durch die Auswahl der Texte und die Dramaturgie der Aufführung erfahrbar gemacht. Beispielhaft dafür steht Ludwig van Beethovens »Bitten« aus seinen Sechs Liedern op. 48: ein inniges Gebet um Erbarmen, in dem die Demut des Komponisten zu uns zu sprechen scheint.
In den ausgewählten Stücken dieses Abends spiegelt sich das menschliche Bedürfnis nach Vergebung und Mitgefühl. Die Musik wird zur Brücke zwischen den Quellen des Erbarmens: erlebte Emotion und transzendente Wahrnehmung. Stimmings Elektronik verstärkt die emotionale Kraft, bringt aber auch neue, zeitgenössische Elemente ins Spiel, die die alten Texte und Melodien in einen modernen Kontext setzen.
Die Wildente, die dem Konzert seinen Namen gibt, ist im tschechischen Volkslied ein Symbol für die beschädigte und doch unbeugsame menschliche Seele. Sie steht für Hoffnung und Streben nach Vergebung und Erbarmen; beklagt nach dem Streifschuss des Jägers noch das Leid, das ihre Hinterbliebenen erdulden müssen, sollte sie ihren Verletzungen erliegen. Diese Metapher wird in der Aufführung auf verschiedene Weisen aufgegriffen – sei es durch die Wahl der Stücke oder durch die elektronischen Klangelemente, die die fragile Balance zwischen Hoffnung und Verzweiflung widerspiegeln.
Leoš Janáčeks volkstümlich anmutende Komposition erhält durch Stimmings elektronische Interpretation eine neue, fast filmische Qualität. Mit den Klängen des Synthesizers wird eine zusätzliche Stimme erschaffen, die die Komplexität der menschlichen Psyche und die Sehnsucht nach Erbarmen im Chorstück akustisch darstellt. Stimming kommentiert:
»Die Wildente ist eine starke Metapher für den menschlichen Zustand. Sie symbolisiert die Brüche und die Verletzlichkeiten, die wir alle in uns tragen, und gleichzeitig die unbändige Hoffnung und den Willen zur Heilung.«
Stimmings Ziel ist es, Strukturen unterhalb der Chorstimmen herauszuarbeiten, einen emotionalen Subtext zu generieren. Dabei schafft er einen Spagat zwischen historisch weit auseinanderliegenden Stilen und Musiksprachen. So auch beim um Gnade flehenden Renaissance-Meisterwerk »Miserere mei, Deus« von Jan Pieterszoon Sweelinck. Mithilfe seiner elektronischen Beats erweitert Stimming die vierhundert Jahre alte Tonsprache um eine moderne Klangfarbe – nicht von der Elektronik überwältigt, sondern subtil durch sie untermalt, bleibt die schlichte, fast asketische Struktur des Stücks ebenso wie die Dringlichkeit der Bitte um Erbarmen dabei erhalten.
Johann Sebastian Bachs »Alleluja« aus der Motette »Lobet den Herrn« BWV 230 ist ein weiterer Höhepunkt des Programms. Stimming gelingt es, die Zeitlosigkeit von Bachs ebenso emotionaler wie harmonisch komplexer Musik ohne Verzicht auf die sakrale Atmosphäre erlebbar zu machen. So betont der Produzent:
»Die Herausforderung besteht darin, die elektronische Musik so zu integrieren, dass sie die emotionale Tiefe des Originals unterstützt, ohne dessen Integrität zu verlieren.«
Mit der elektronischen Verarbeitung zweier Sätze aus Einojuhani Rautavaaras Komposition »Vigilia« (1971/72), deren einzigartiger Klang sich eng an den Klangpraktiken der orthodoxen Kirche orientiert, wird das Konzert eröffnet. Stimming kommentiert:
»Hier geht es darum, diese Vergänglichkeit und Schönheit von Rautavaaras Musik zu betonen. Die elektronischen Elemente verleihen dem Stück eine zusätzliche Dimension der Tiefe und Reflexion.«
Dieses Konzert ist Teil des Fellowship-Programms des Beethovenfests, das fünf Fellows die Möglichkeit bietet, innovative und interdisziplinäre Projekte zu entwickeln. Stimming nutzt diese Plattform, um die Grenzen der klassischen Musik zu erweitern und neue Ausdrucksformen zu erforschen. Ein Teil seines Beitrags zum Fellowship-Programm ist auch seine interaktive Klanginstallation »trias politica« aus drei tönenden Säulen, die die Gewaltenteilung in modernen Demokratien repräsentieren. Während des Beethovenfests wird diese begehbare Klangfläche an verschiedenen Stellen in Bonn und Umgebung aufgebaut. Ausgangsmaterial ist das Friedensgebet im »Agnus Dei« aus Ludwig van Beethovens »Missa solemnis« – ebenfalls ein Gebet um Erbarmen. Stimming erklärt:
»Das Fellowship ermöglicht es mir, meine Ideen in einem größeren Kontext zu realisieren und sie einem breiten Publikum vorzustellen. Es ist eine spannende Herausforderung und eine große Ehre, Teil dieses Programms zu sein.«
Patrick Becker: Wie haben das NDR Vokalensemble und Sie zusammengefunden?
Martin Stimming: Das NDR Vokalensemble war ursprünglich auf der Suche nach DJs und kam dann auf mich zu. Dabei wurde schnell deutlich, dass ich kein DJ bin, sondern ein Produzent: Ich produziere die Einzelteile von Musik, um ein fertiges Stück zu machen, ein DJ setzt fertige Stücke zu etwas noch Größerem zusammen. Aber dadurch kann er live überhaupt nicht auf die Musiker:innen reagieren, er könnte nur einige Tracks auswählen, über die das Ensemble dann spielen müsste. Es gab erste kleinere Kooperationen mit Teilen des Ensembles, die so gut liefen, dass wir uns entschieden, die Zusammenarbeit weiterzuführen.
PB: Welche Herausforderungen gibt es denn bei der Zusammenarbeit?
MS: Die Kombination ist heikel, besonders wenn das Programm hauptsächlich aus klassischer Musik besteht. Ich denke, dass große Teile des Publikums richtige Experten auf diesem Gebiet sind und zuhause gute Lautsprecher oder Profi-Kopfhörer besitzen. Deren Erwartungshaltung ist eine ganz andere als bei einem jungen Publikum, das nicht so klassik-affin ist. Deshalb gibt es auch nur sehr wenige Leute aus dem Techno, die sich an Klassik herangewagt haben. Ich habe durch diese Herausforderung wahnsinnig viel gelernt: wie wichtig Stringenz ist und wie wichtig die Geschichten sind, die ich mit meiner Musik erzählen möchte. Zu den Proben komme ich mit meinem beinahe schon fertigen Elektronikanteil, sodass wir mit dem Ensemble vor allem an Timing und Intonation feilen können, während ich lerne, wo ich verlangsamen, wo ich auf den Chor reagieren muss.
PB: Wie manifestiert sich Ihre künstlerische Herangehensweise in der Musik?
MS: Ich stelle die Chormusik und meinen eigenen Beitrag gleichbedeutend nebeneinander. Am Ende soll daraus eine Chorplatte mit Elektronik werden. Nehmen wir eins der älteren Stücke im Programm, Sweelincks »Miserere«, über 400 Jahre alt, beruhend auf einem einfachen gregorianischen Gesang: Da füge ich ein paar Beats hinzu, gerade weil diese Komposition so einfach ist, dass das gut funktioniert. Das namensgebende Stück des Konzerts wiederum, Janáčeks »Die Wildente«, ist an sich schon so komplex, dass ein ganz sanfter Sound vom Synthesizer ausreicht: einstimmig und den Chor nur unterstützend, indem ich tiefe Töne verwende, die von der menschlichen Stimme schon gar nicht mehr erreicht werden können. Um diese Kontraste geht es mir.
PB: Was hoffen Sie mit dieser Arbeitsform beim Publikum zu erreichen?
MS: Ohne kitschig zu sein: Es geht um Melodien, um Harmonien, um Musik, die berühren kann. Wenn in einem ruhigen musikalischen Fluss plötzlich ein Moment kommt, der tief zielt, dann hat das viel mehr Kraft, als wenn man die ganze Zeit auf klischeehafte Emotionen setzt. Das würde sich ganz schnell abnutzen.
PB: Der Arbeitstitel dieses Konzerts lautete »Erbarmen«. Welche Gefühlswelt machen Sie damit auf?
MS: Das ist alles todtraurig. Den Dirigenten, Klaas Stok, und mich eint eine melancholische Grundhaltung gegenüber der Welt. Das schien uns für dieses Konzert der richtige Ausdruck zu sein, um aktuell zu bleiben. Wir haben von Franz Liszt die zwölfte Station aus seiner »Kreuzweg«-Komposition im Programm, »Jesu stirbt am Kreuze«. Das ist eines der traurigsten Stücke, die ich jemals gehört habe. Auch wenn mit dem Gedanken von »Herr, erbarme dich« eine abstrakte Ebene aufgemacht wird, ist doch intuitiv klar, welche vielen und komplexen Krisen der Gegenwart damit eigentlich angesprochen werden. Dieses Thema zieht sich auch durch die ganze Kirchengeschichte, ist überhaupt ein religiöses Thema, weswegen es so viele sakrale Musikstücke darüber gibt.
PB: Wie gehen Sie damit um, solche emotionalen Gehalte digital zu produzieren?
MS: Die Frage ist bei mir immer, ob es von vornherein meine Absicht war, emotional in eine bestimmte Richtung zu gehen, ob meine Geräte gewissermaßen ein Eigenleben haben oder ob die Stimmung in den Stücken selbst angelegt ist. Ich setze mich mit einer Vorstellung an die Maschine, die sich so nie umsetzen lässt: Die eigentliche Idee entwirft man ganz schnell in einem Moment, im Prinzip ersinnt man in einer halben Stunde, was umzusetzen dann Wochen und Monate dauert. Was mir immer wieder in den Sinn kommt, wenn ich mit Sänger:innen arbeite, ist der eigentlich verrückte Versuch, bei digital erzeugter Musik dem Computer Leben einzuhauchen – also Seele, Gefühl und auch ein bisschen Ungenauigkeit. Natürlich lieben wir es, Muster zu erkennen, aber wir benötigen die Ungenauigkeit innerhalb dieses Musters, damit es für uns interessant wird. Stumpfer Techno ist so wahnsinnig langweilig, weil es keine Ungenauigkeiten gibt, weil alles so exakt und hundertprozentig mathematisch sauber ist. Man trifft sich deshalb in der Mitte: Ich muss Ungenauigkeit in die Computermusik bringen, und die klassischen Musiker:innen haben die Herausforderung, aus der Ungenauigkeit Genauigkeit zu erlangen. Das erzeugt dann plötzlich einen Moment, den es so vorher noch nie gab und der auf eine neue Weise berührt.
Wir – das Beethovenfest Bonn – laden ein, in einem offenen und respektvollen Miteinander Beethovenfeste zu feiern. Dafür wünschen wir uns Achtsamkeit im Umgang miteinander: vor, hinter und auf der Bühne.
Für möglicherweise auftretende Fälle von Grenzüberschreitung ist ein internes Awareness-Team ansprechbar für Publikum, Künstler:innen und Mitarbeiter:innen.
Wir sind erreichbar über eine Telefon-Hotline (+49 (0)228 2010321, im Festival täglich von 10–23 Uhr) oder per E-Mail (achtsamkeit@beethovenfest.de).
Werte und Überzeugungen unseres Miteinander sowie weitere externe Kontaktmöglichkeiten können hier auf unserer Website aufgerufen werden.
Das Beethovenfest Bonn 2024 steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst.
Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Noomi J. Bacher
Die Texte von Patrick Becker sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.