Philo Tsoungui Schlagzeug, Live-Elektronik & Komposition
Überraschungsgäste:
Kai Schumacher Klavier
KITSUNE Live-Elektronik
5.9.-3.10. 2024
Philo Tsoungui Schlagzeug, Live-Elektronik & Komposition
Überraschungsgäste:
Kai Schumacher Klavier
KITSUNE Live-Elektronik
Woraus generieren sich unsere Realitäten, wie werden sie geformt? Im Rahmen des Fellowship-Programms beim Beethovenfest Bonn fordert Drummer:in, Komponist:in, Produzent:in und Videokünstler:in Philo Tsoungui nicht nur unser Verständnis von klassischer Musik und Technik heraus, sondern auch unser Konzept von Wahrheit und Existenz.
Mit einer Programmiersprache bearbeitet Philo Sequenzen aus Ton-Samples von live gespielten Instrumenten. Während der Aufführungen entsteht ein Dialog zwischen Mensch und Technik, indem Philo die live gespielte Musik elektronisch manipuliert. Fragile akustische Klänge prallen so auf futuristische Geräusch-Collagen – maschinelle Computermusik auf menschliche Spontaneität.
Anmerkung: In Absprache werden auf Philo Tsoungui bezogene Substantive in non-binärer Form gesetzt (z. B. »Künstler:in«) und keine Pronomen verwendet.
Seit den 1950er-Jahren schufen Komponist:innen wie Karlheinz Stockhausen mit Sinus- und Impulsgeneratoren, Tonbändern und Nachhallgeräten, später auch mit Synthesizern und Sequencern Klänge, die man so noch nie gehört hatte. Dennoch wird die Nutzung von Computertechnik in der klassischen Musik bis heute eher mit Skepsis betrachtet. Philo Tsoungui will entmystifizieren, welche Rolle Technik in der klassischen Musik spielen kann.
»Ich bin mir sicher, dass die meisten ›alten Meister‹ Computer genutzt hätten, wenn sie diese Möglichkeit gehabt hätten.« – Philo Tsoungui
Dabei sieht Philo Technik nicht nur als Begleiter, sondern als integralen Teil des kreativen Prozesses. Während der Aufführung manipuliert Philo die live gespielte Musik elektronisch. Um die Grenzen traditioneller Hardware-Sequencer zu überwinden, verwendet Philo die Programmiersprache Max/MSP.
»Mit Max/MSP kann ich sehr kleinteilig in die Sequenzen eingreifen und den Computer so programmieren, dass er mir spontane musikalische Informationen liefert. Damit erschaffe ich ein flexibles und interaktives System, das mir immer wieder neue Informationen ausspuckt, ich aber trotzdem noch beeinflussen kann.«
Aktuell erforscht Philo verschiedene Sequenzen und notiert daraus mithilfe einer grafischen Partitur verschiedene Patterns, also kurze Klangfolgen. Es geht Philo nicht um eine möglichst exakte Umsetzung der Sequenz in Tonhöhe oder Dynamik, sondern um die Interpretation ihres Charakters. So entsteht ein flexibles Miteinander, ein Dialog zwischen Musiker:innen und Technik.
In Bezug auf klassische Musik stellt Philo nun die Frage, woraus sich eigentlich die scheinbar gültige Wahrheit generiert, dass Technik in der klassischen Musik nichts zu suchen hätte. Handelt es sich um eine grundlegende Skepsis gegenüber neuen Entwicklungen? Liegt es daran, dass Wissen über die Funktion von Technik fehlt?
»Menschen gehen häufig davon aus, man müsste nur den Computer anwerfen und einen Knopf drücken und schon würde alles von allein passieren. So ist es aber nicht. Auch mit dem Programmieren muss man sich jahrelang beschäftigen. Wie in der analogen Musik muss man auch in der elektronischen Musik jahrelang üben und seine Fähigkeiten perfektionieren. Die Technik arbeitet nicht von allein, sie braucht die richtigen Anweisungen durch den Menschen.«
Philo Tsoungui studierte selbst klassisches Schlagwerk und erwarb umfangreiche Erfahrungen mit renommierten Künstler:innen, etwa Dirigent Kirill Petrenko. Aus eigener Erfahrung weiß Philo, wie rigide die Strukturen der klassischen Musik sind und wie sehr Musiker:innen auf Perfektion getrimmt werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat sich Philo mehr und mehr aus der klassischen Musik zurückgezogen und ist mit dem Jazz- und Pop-Studium in die Welt des freien Spielens, in Genres wie Jazz, Pop, Rock und Elektronik eingetaucht. Heute gehört Philo Tsoungui zu den gefragtesten Drummer:innen des Landes.
»Eigentlich ist das ein Widerspruch: in der Klassik strebt man stets nach Perfektion, doch sobald ein Computer ins Spiel kommt, gibt es einen Aufschrei. Die Musik soll atmen und sich bewegen, doch diese Bewegung darf nur in einem begrenzten und genau definierten Rahmen stattfinden. Es handelt sich also um eine künstliche Form von Menschlichkeit.«
Aktuell produziert Philo eine EP, in der sich Klangwelten elektronischer Musik mit der kamerunischen Musikrichtung Bikutsi verbinden. Als Teil der Gruppenausstellung »Forgive Us Our Trespasses. Of (Un)Real Frontiers, Of (Im)Moralities and Other Transcendences» im Haus der Kulturen der Welt in Berlin von September bis Dezember 2024 wird Philo eine Audio-Videoinstallation präsentieren, die sich mittels Tonaufnahmen aus dem Zuhause der sächsischen Großeltern mit dem Gefühl des Aus-dem-Rahmen-Fallens beschäftigt.
In ihrem Fellowship beim Beethovenfest Bonn führt Philo Tsoungui all diese persönlichen und beruflichen Erfahrungen und Auseinandersetzung zusammen, erobert sich den Klangraum der Klassik zurück und integriert ihn in ein momentanes Schaffen, um so einen neuen Weg zu gehen – für sich und das Publikum.
»Mit diesem Projekt nehme ich meinen Platz in der Klassik wieder ein, die ich eigentlich verlassen hatte, weil ich das Gefühl hatte, dass es für mich als queere:n, Schwarze:n Künstler:in dort keinen Platz gibt.«
Im heutigen, zweiten Fellowship-Konzert lädt Philo Überraschungsgäste ein, die Philos musikalischen Weg inspiriert haben. Der Fokus an diesem Abend wird jedoch auf Philo als Solist:in und Drummer:in liegen – wie auch bei der ersten Performance am 20.9.2024 in Interaktion mit der Technik.
In Herangehensweise und Methodik ist Philo unter anderem von Komponist:innen wie Iannis Xenakis, Benjamin Patterson und Julius Eastman inspiriert, die innovative Ideen und Methoden entwickelten, die bis dahin kaum oder gar nicht mit dem Kompositionsprozess in Zusammenhang gebracht wurden. Mit ihrem Ansatz haben sie nicht nur radikal in Frage gestellt, welche Parameter erfüllt sein müssen, damit ein Werk als Musik bezeichnet werden kann. Sie entwickelten auch Methoden, um diese neuen Formen der Musik aufführbar und konservierbar zu machen. Dennoch haben Benjamin Patterson und Julius Eastman als Schwarze Komponisten – und Julius Eastman als Schwarzer, schwuler Komponist – zu Lebzeiten nie die Anerkennung erfahren, die ihnen gebührt hätte. Und so schließt sich hier der Kreis zu den Fragen, die auch Philo stellt: Wer sitzt auf den Bühnen? Wessen Stücke werden gespielt? Und wer bestimmt das?
Interview und Text: Tia Morgen
Philo Tsoungui ist Schlagzeuger:in, Komponist:in, Produzent:in und Videokünstler:in. Als Ensemblemitglied und Solokünstler:in bespielte Philo Bühnen von der Westküste der USA bis nach Hongkong, von Oslo bis Kairo. In den renommierten Klassen von Peter Sadlo, Raymond Curfs und Adel Shalaby lernte Philo das Handwerk von der Pike auf. Durch Arbeiten mit Dirigent Kyrill Petrenko, Schlagwerker Martin Grubinger oder Komponist Steve Reich konnte Philo die eigenen Kenntnisse und Interessen weiter ausbauen. Anschließend absolvierte Philo einen Master in Popular Music an der Popakademie Baden-Württemberg.
In den vergangenen Jahren entstanden Arbeiten gemeinsam mit genreübergreifenden Künster:innen wie Mine, Fatoni, Tarek K.I.Z, Moses Sumney, Loredana, Kraftklub, Michael Patrick Kelly und vielen anderen. Zuletzt war Philo ein Jahr lang mit der amerikanischen Progressive-Rock-Band The Mars Volta auf Amerika- und Europa-Tournee. Diese Erfahrungen, gepaart mit dem Aufwachsen in einem kamerunisch geprägten Haushalt, sind entscheidend für die einzigartige Mischung verschiedener Kunstformen und Klangwelten, die Philo Tsounguis Werk prägen. Philo überschreitet dabei die Grenzen der Genres und verinnerlicht Regeln, um sie zu brechen.
Kai Schumacher liebt es, die Grenzen zwischen klassischer und populärer Musik zu verschieben, ohne dabei in der Klischeefalle »Crossover« steckenzubleiben. Als Pianist, Komponist und Arrangeur nutzt er dafür seine klassische Ausbildung an der Folkwang Universität der Künste. Neben der Konzeption von genreübergreifenden Konzertformaten liegt ein Schwerpunkt seines Repertoires als Pianist auf Minimal Music sowie amerikanischer Klaviermusik des 20. und 21. Jahrhunderts.
Auch gemeinsam mit Partner:innen aus verschiedenen musikalischen Welten lässt er sich gerne auf Experimente ein: Mit Gisbert zu Knyphausen hat er 2021 das Album »Lass irre Hunde heulen« veröffentlicht, auf dem die beiden Lieder Franz Schuberts neu interpretieren.
Konzertreisen als Solist und Kammermusikpartner führten Kai Schumacher bereits quer durch Europa, Asien sowie Süd- und Nordamerika. Seit 2015 unterrichtet er im Hauptfach Klavier an der Folkwang-Universität der Künste, Standort Duisburg.
KITSUNE tritt als architektonischer Klang-Designer hervor und versucht, liminale Schwellenräume zwischen elektronischen Musikstilen zu begehen. Inspiriert vom mythischen Fuchsgeist aus der japanischen Folklore, spielt KITSUNE mit Kontrasten. So wie der Kitsune-Geist die Form wechseln und zwischen Welten wandern kann, überschreitet KITSUNEs Musik die Grenzen traditioneller elektronischer Genres. Beeinflusst von so unterschiedlichen Stilen wie Ambient, Glitch, Techno und Field Recordings, ist das Wichtigste ein Leben voller Erinnerungen, die in Musik übersetzt werden. Aleatorische Technologie verbindet Erinnerungen neu und widersetzt sich linearen Zeitkonzepten.
Wir – das Beethovenfest Bonn – laden ein, in einem offenen und respektvollen Miteinander Beethovenfeste zu feiern. Dafür wünschen wir uns Achtsamkeit im Umgang miteinander: vor, hinter und auf der Bühne.
Für möglicherweise auftretende Fälle von Grenzüberschreitung ist ein internes Awareness-Team ansprechbar für Publikum, Künstler:innen und Mitarbeiter:innen.
Wir sind erreichbar über eine Telefon-Hotline (+49 (0)228 2010321, im Festival täglich von 10–23 Uhr) oder per E-Mail (achtsamkeit@beethovenfest.de).
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Das Beethovenfest Bonn 2024 steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst.
Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Noomi J. Bacher
Die Texte von Tia Morgen sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.