ensemble reflektor
Giorgi Gigashvili Klavier & Leitung
Nikala Zubiashvili Live-Elektronik
5.9.-3.10. 2024
ensemble reflektor
Giorgi Gigashvili Klavier & Leitung
Nikala Zubiashvili Live-Elektronik
Alfred Schnittke (1934–1998)
Konzert für Klavier und Streichorchester
Gija Kantscheli (1935–2019)
»Valse Boston« für Klavier und Streichorchester
Pause
Giorgi Gigashvili (*2000)
Komposition für Klavier, Elektronik und Streichorchester (Uraufführung)
Der Pianist Giorgi Gigashvili schafft einen mehrfachen Spagat: zwischen Konzerthäusern und den Techno-Clubs seiner georgischen Heimatstadt Tbilisi. Zwischen großer Klassik, georgischer Folklore, experimentell-elektronischen Klängen und Hip-Hop. Und nicht zuletzt zwischen seinen beiden Lebensmittelpunkten in Berlin und Tbilisi.
Heute ist er nach zahlreichen Wettbewerbserfolgen auf den großen Konzertbühnen der Welt zu Hause. Aufgewachsen ist Gigashvili mit georgischer Vokalmusik und groß geworden zwischen Konservatorium und Hip-Hop. Es geht ihm vor allem um den Flow in der Musik, darum, sich vorzustellen, wie die Komponist:innen selbst ihre Stücke spielen würden, um das heutige Publikum für sich zu gewinnen.
In den drei Konzerten, die er im Rahmen seines Beethovenfest-Fellowships präsentiert (zusätzlich zu seinem Auftritt im Eröffnungskonzert), zeigt Gigashvili, was es für ihn heißt, im Jetzt ein Pianist zu sein – und wie er die Herausforderungen des Klassikbetriebs mit seiner eigenen musikalischen Identität zwischen Brahms und Beyoncé vereint.
Das dritte und abschließende Konzert, das Giorgi Gigashvili dem Bonner Publikum als Beethovenfest-Fellow präsentiert, setzt auf großes Ensemble und große Gefühle. An seiner Seite steht wieder sein Freund und Duopartner Nikala Zubiashvili an der Live-Elektronik. Neben einem neuen Ensemblestück von Gigashvili selbst erklingen zwei Werke für Klavier und Streichorchester der spät- und postsowjetischen Komponisten Gija Kantscheli und Alfred Schnittke.
Was erwartet das Publikum? Düstere Klangwelten, starke Kontraste und die große stilistische Vielfalt im Kleinen, die Gigashvilis Arbeit auch ganz grundsätzlich charakterisieren. Aber wie kommt Gigashvili gerade zu Schnittke und Kantscheli?
»Die beiden sind für mich die größten Komponisten der späten Sowjet- und frühen Postsowjetischen Zeit. Die Musik ist ganz nah an dem dran, was mir selbst vorschwebt, sie ist extrem, maschinenhaft, wütend. Wut ist die einzige Emotion, die man auf dem Klavier ganz unvermittelt transportieren kann. Ich finde, das Klavier ist kein Instrument für Liebeslieder. Ich mag die Direktheit des Klangs und das passt zur Wut. Ich weiß nicht, ob und wenn ja worüber ich eigentlich wütend bin, aber es ist das dominierende Gefühl in diesem Programm.«
Alfred Schnittke (1934–1998, Sowjetunion/Deutschland)
Bekannt für: seine polystilistische, eigenständige Kompositionsweise
Uraufgeführt 1979 in Leningrad ist Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streichorchester ein Werk, das Kontraste in den Mittelpunkt stellt. Mal zeichnet Schnittke mit mechanischen, aggressiven Farben eine Dystopie, mal erzählt er mit zarten, repetitiven Klängen von Hoffnung und Trost. Diese akustische Zerrissenheit erzeugt er, indem er verschiedene musikalische Anleihen virtuos ineinander verschränkt.
Das Klavierkonzert gilt als Paradebeispiel der Polystilistik, für die Schnittke bekannt geworden ist. Flächige, clusterartige Patterns treffen auf Anklänge an den orthodoxen Kirchengesang, klassisch-romantische Motive auf reduziert-repetitive Klänge. Das Klavier mischt sich teilweise in die Streicherklänge, die zuweilen fast an Filmmusik erinnern, teilweise stören die harten, aggressiven Akkorde auch gezielt den Orchesterklang.
Für Schnittke selbst war diese Kompositionsweise die logische Konsequenz aus der akustischen Umwelt, in der er lebte und arbeitete. Im Alltag erlebe man ständig, dass aus dem Radio diese, aus dem Fernseher jene Musik erklinge. Die Menschheit verliere dadurch schnell ein »einheitliches, musikalisches Bewusstsein«, so der Komponist. Schnittke sah es als seine Aufgabe, »dieses ganze stilistische Kaleidoskop einzufangen, um so etwas von dieser Realität widerzuspiegeln«.
Gija Kantscheli (1935–2019, Sowjetunion/Georgien)
Bekannt für: seine melancholischen Kompositionen
Auch in der Brust des zweiten großen Werks des Abends schlagen zwei (oder mehr) Herzen. Als »Valse Boston«, Bostoner Walzer, betitelt, fordert das Klavierkonzert nicht zum Tanz auf. Im Gegenteil: Die knappe halbe Stunde Musik ist von einer statischen, langsamen Entwicklung geprägt. Die Musik evoziert das Bild eines unbeweglichen, ja fast gelähmten Tanzes.
Dabei mangelt es nicht an musikalischer Initiative – die Streicher gehen in die Offensive, um den Tanz in Gang zu bringen, das Klavier kontert jedoch mit starken Akkorden, mal mit, mal gegen die Orchesterbegleitung. Ähnlich wie bei Schnittke ist die Grundstimmung eher düster, Walzermotive und -rhythmik blitzen nur hier und da auf.
Gigashvilis Faszination für Schnittke und Kantscheli rührt sicher auch daher, dass sie einige Gemeinsamkeiten haben: Alle drei identifizier(t)en sich als Exilexistenzen, verarbeiten die musikalischen Einflüsse verschiedener Stile und Welten. Schnittke sagte über sich:
»Obwohl ich kein russisches Blut in mir habe, bin ich mit Russland, wo ich mein ganzes Leben verbracht habe, eng verwachsen. Andererseits ist vieles von dem, was ich geschrieben habe, auf irgendeine Weise mit der deutschen Musik und jener Logik, die mit dem Deutschen zusammenhängt, verbunden.«
Auch der Georgier Kantscheli, der Mitte der 1930er-Jahre in Tbilisi geboren wurde, kam in den 1990er-Jahren nach Europa, zunächst nach Berlin, später nach Belgien. Der Spiegel des Vertrauten im Fremden, das Überlagern verschiedener Wahrnehmungsebenen, die Erfahrung von Opposition und Aufbäumen – all diese musikalischen Farben finden sich auch in den Biografien der Komponisten dieses Konzerts wieder.
Alle drei verbindet die Offenheit für die Verschiedenartigkeit der Welt, für musikalische Vielfarbigkeit und die Leidenschaft, in der kreativen Arbeit Bestehendes neu zu kombinieren. Auch wenn Kantscheli vielleicht nicht Gigashvilis Leidenschaft für Beyoncé teilte – sein Studium finanzierte er mit Popsongs und Chansons, sein Leben später mit Filmmusik. Trotz aller Intellektualität zeigte er eine große Offenheit für Flow im Sinne Gigasvhilis. Dieser begegnete Kantscheli ein Jahr vor seinem Tod und hatte ein »wahnsinnig schönes Gespräch« mit ihm.
Was das Publikum in Gigashvilis eigenem Werk genau erwartet, soll eine Überraschung bleiben. Vielleicht verwebt auch er, wie Schnittke und Kantscheli, die vielfältigen musikalischen Einflüsse, die ihn prägen. Vielleicht klingen aus der Ferne die Bässe der Techno-Clubs seiner Heimatstadt an, vielleicht Motive aus seinem breiten Klavierrepertoire. Vielleicht nutzt er die Farben des Klaviers, um seinem Ärger über die wenig Optimismus verbreitende politische Gemengelage in seiner Heimat Ausdruck zu verleihen, vielleicht zeichnet er auch die musikalische Vision einer ganz anderen Welt. Alles das werden wir erst wissen, wenn wir sein Werk gehört haben.
Eine ganz persönliche Vision für seine Zukunft hat er jedoch jetzt schon verraten:
»Ich will in einem idealen Georgien leben, jungen Leuten, jungen Musiker:innen helfen, finanziell, aber hauptsächlich teilen, was ich gelernt habe. Das ist das Beste, was ich tun kann. In einer idealen Welt hätte ich die Freiheit, künstlerisch zu tun, was ich will, zu spielen, mit wem ich will und wo ich will. Quasi ein permanentes Beethovenfest-Fellowship!«
Text: Jonas Löffler
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Das Beethovenfest Bonn 2024 steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst.
Programmheftredaktion:
Sarah Avischag Müller
Noomi J. Bacher
Die Texte von Jonas Löffler sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.