Гільдеґарда (Hildegarda) ist das neue Album von Elektronik-Künstler Heinali und der Sängerin Andriana-Yaroslava Saienko, erschienen am 30. Mai beim Label Unsound. Mit den verwandelten Gesängen aus dem Mittelalter bereiten sie einen mystischen Festival-Prolog im Bonner Münster. Hier schreibt der Ukrainer Heinali, bürgerlich Oleh Shpudeiko, über die Angst angesichts der Bomben und die Verbindung zu einer 1000-jährigen Musik.

Als eine russische Rakete nicht weit von meinem Studio in Kyjiw einschlug, erinnere ich mich lebhaft daran, wie mein Körper auf die Explosion reagierte, und zwar Millisekunden vor meinem Geist. Diese traumatische Explosion reduzierte mein Wesen auf einen Urzustand. Es herrschte nichts als Furcht – eine Furcht, die in der Heiligen Schrift das Erscheinen von Engeln begleitet, die verkünden: »Fürchtet euch nicht«.
Den Visionen der Äbtissin, Komponistin und Mystikerin Hildegard von Bingen gingen helle, quälende Lichtblitze voraus. Die moderne Medizin bezeichnet sie als Clustermigräne, ein Symptom davon ist die Aura der Netzhaut, die oft von verschwommenem Sehen und blinden Flecken begleitet wird. Hildegards Musik kann den Körper ihrer Interpret:innen stark beanspruchen, indem sie unangenehme Intervalle und den großen Abstand zwischen dem tiefsten und dem höchsten Ton hervorhebt. Im Vergleich dazu stellt der gregorianische Choral, der liturgische Standard jener Zeit, einen gemäßigten Versuch dar, Gott intellektuell zu erfassen; tatsächlich wurde Hildegards Musik einmal als eine Dynamitstange beschrieben, die in einen gregorianischen Choral geworfen wurde.

Dieses Album ist keine historisch informierte Aufführung. Hildegards Person und Musik sind ein Ausgangspunkt – ein entfernter Spiegel, ähnlich dem Schild des Perseus, in dem sich die Medusa spiegelt. Sie ermöglicht es uns, traumatische Kriegserfahrungen zu reflektieren, zu begreifen, zu externalisieren und zu transzendieren. Denn sie macht uns die verkörperten Ursprünge des Christentums wieder fühlbar. In diesem körperlichen Glauben gab es zwar Leiden, aber auch das Versprechen der Transzendenz. Andriana-Yaroslava Saienko betont diesen körperlichen Aspekt von Hildegards Musik, indem sie auf den authentischen ukrainischen Volksgesang zurückgreift, eine Form, die trotz der Bemühungen der sowjetischen Besatzung, sie durch ein naives, harmloses und widerspruchsfreies Abziehbild zu ersetzen, überlebt hat.

Die musikalische Herangehensweise ist auch durch meine laufende Praxis der elektronischen Neuinterpretation alter Musik mithilfe von der modularen Synthese geprägt. Ich begleite Andriana-Yaroslavas feurigen Gesang mit ›Drones‹. Diese langen Basstöne kommen auch in der mittelalterlichen Musik vor. Die Drones wechseln sich mit Improvisationen ab. Dabei nutze ich die Regeln der mittelalterlichen Polyphonie. Außerdem improvisiere ich auch mit dem Konzept der Austauschbarkeit von Klang und Licht. Dadurch beziehe ich mich sowohl auf Hildegards Visionen als auch auf den Ort, an dem wir das Album aufgenommen haben: die Zisterzienserabtei Sylvanès in Südfrankreich. Sie ist für ihre historischen Glasfenster bekannt ist, deren Muster auf die Ausbreitung akustischer Wellen im Inneren der Kirche verweisen.
Das Album enthält zwei Kompositionen von Hildegard von Bingen: »O Ignis Spiritus Paracliti« (O Feuer des Geistes und Verteidigers), das dem Heiligen Geist gewidmet ist, und »O Tu Suavissima Virga« (O süßester Zweig), zu Ehren der Jungfrau Maria. Beide Stücke werden radikal langsamer als üblich gespielt und dehnen sich in Zeit und Raum aus. Auf Vinyl sind die Kompositionen so gestaltet, dass sie sich gegenseitig reflektieren und in beliebiger Reihenfolge angehört werden können. Die digitale Ausgabe enthält einen Bonustrack mit dem Titel »Zelenaia Dubrovonka« (Der Grüne Eichenhain). Basierend auf einem ukrainischen Volkslied aus der Region Polissia, hat Andriana-Yaroslava den Text an unsere heutige Realität angepasst. Der grüne Eichenhain rauscht nicht im Wind, sondern hallt mit einem anderen Klang wider – vielleicht die Rakete, die in der Nähe meines Kyjiwer Studios eingeschlagen ist.
Konzert im Festival 2025
- , Bonner Münster
Prolog: Hildegarda
Kammermusik, VokalHathor Consort, Heinali, Andriana-Yaroslava Saienko
Ferrabosco II, Gibbons