»... wenn jemand neben mir eine Flöte hörte und ich nichts hörte ...«
Die Biographik hat ihn mit starkem Pinsel gemalt. Einhellig stimmte sie das Publikum auf das Bild eines Beethoven ein, der mit dem Schicksal kämpft, es niederringt, »überwindet«. Die Ikonographie trug das Ihre bei: trotzig, gewaltig, herb, grüblerisch, titanisch zeigen ihn die Skulpturen von der Romantik bis in die totalitäre Moderne; zerrissen, unglücklich, düster dahinstürmend, zugleich heroisch die Ölgemälde und Zeichnungen.
Beethoven selbst hat die Stichworte gegeben: »Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen – ganz niederringen soll es mich nicht.«, heißt es in einem Schreiben an seinen Jugendfreund, den Arzt Franz Gerhard Wegeler, aus dem Jahr 1801. In demselben Brief stehen aber auch Sätze, die seine soziale Isolation zum Ausdruck bringen und seine existenzielle Verzweiflung: »Ich bringe mein Leben elend zu; seit zwei Jahren fast meide ich alle Gesellschaften ... ich habe schon oft den Schöpfer und mein Dasein verflucht.«
Bereits 1796 hatte sich ein Ohrensausen bei Beethoven eingestellt, das langsam, aber unaufhörlich zur Schwerhörigkeit führte und schließlich, um 1814, zur völligen Taubheit. Seitdem verkehrte er nur noch schriftlich mit der Welt. Und beschäftigte sich als »Ohrenmaschinist«, allerlei Hör-Konstruktionen in Auftrag gebend, immer in der Hoffnung auf Besserung. 1802 ist er dem Selbstmord nahe. An seine Brüder gerichtet ist das »Heiligenstädter Testament«, das erneut die fortgeschrittene Taubheit beklagt: Neben ihm stehend, höre einer die Flöte, die er nicht hört, neben ihm höre einer den Hirten singen und er höre nichts. »Es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück.« Leicht übertreibend könnte man sagen, dass Beethoven sein ganzes Werk als Tauber geschrieben habe. Kein Leichtsinn, kein Zufall, kein Unfall hat ihm die Existenz der inneren Abgeschiedenheit beschert.
Da drängt sich bei einem Musiker denn doch der Begriff »Schicksal« auf – nicht, weil er ein Gehör zum Komponieren gebraucht hätte, sondern seine Laufbahn als Pianist und Dirigent damit besiegelt war. Nimmt man noch die lebenslangen Unterleibsleiden hinzu, von dem psychischen Auf und Ab seiner Suche nach einer geborgenen Existenz in der Ehe ganz zu schweigen, so versteht man, warum er sich so oft, in der dritten Person, als der »unglückliche Beethoven« bezeichnete.
Fragt sich nur, ob die Gloriole des »Trotzdem«, die das Bild des »SchicksalÜberwinders « Beethoven begründete, schon alles ist. Eine eindrucksvolle moralische Haltung und gewaltige Selbstbehauptungskräfte führen ja noch nicht zu exzeptionellen Kompositionen. Wir müssen seine künstlerische Entwicklung dazu addieren: Gab es nicht auch Schicksals-Gewinn? »Charakter und Gehalt seines Schaffens wurde durch die Taubheitskrise mächtig verstärkt.«, so der Beethoven-Kenner Lewis Lockwood. »Paradoxerweise mag Beethoven ... gerade durch seine Ertaubung einen Weg gefunden haben, sein kreatives Selbst vor Zugriffen von außen zu schützen«.
Glaubwürdig verbürgt ist eine Aussage des Komponisten aus jener Zeit, er wolle einen »neuen Weg« einschlagen. Es gibt Interpreten, die das »Heiligenstädter Testament« als einen »Wachtraum von Heroismus, Tod und Wiedergeburt « bezeichnen (Maynard Solomon), und andere, die dafür plädieren, dass das »ästhetische Subjet« Beethoven vom »biographischen« zu trennen sei (Carl Dahlhaus). An der Neugeburt des »ästhetischen Subjekts« ist jedenfalls nicht zu zweifeln, denn der »neue Weg« wird kompositorisch auf revolutionäre Weise konkretisiert, unter anderem mit der »Eroica« und ihrer Parallelsymphonie, der fünften.
Damit sind wir beim zentralen Werk des Beethovenfestes 2018, zu hören in verschiedenen Fassungen – mit großem Orchester, im »Originalklang« und zu acht Händen auf zwei Klavieren. Vier markante Schläge prägen das Anfangsmotiv dieser fünften Symphonie, um 1800 skizzenhaft begonnen, 1808 vollendet und uraufgeführt. Spaßhaft hat die Musikkritikerin Eleonore Büning es das »Kopf-ab- Motiv« genannt – ihre Reverenz den unausrottbaren Deutungstraditionen erweisend, die diesem Werk den Namen »Schicksalssymphonie« angehängt haben.
Einmal vom unzuverlässigen Beethoven-Biographen Anton Schindler in die Welt gesetzt – »so pocht das Schicksal an die Pforte« – prägt dieser Beiname nun ein Werk, das wohl zu den berühmtesten und auch populärsten zählt. Am Leitfaden dieser Symphonie und des für den Beethovenschen Kosmos zentralen Begriffs »Schicksal« haben wir unser Programm für das Beethovenfest 2018 entwickelt. Das Motto »Schicksal« in all seiner metaphysischen Bitternis erlaubte uns, den »per aspera ad astra«-Komplex der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts aufzublättern, das vor allem in der Aufklärung gepflegte Vertrauen, dass die Menschheit »durch die Nacht zum Licht« gelange – also von c-Moll nach C-Dur, wie es die Fünfte demonstriert – ein Duktus, dem noch Gustav Mahlers Fünfte folgt. Es ermöglichte uns aber auch, tief hineinzugreifen in den abendländischen Fundus der Klage- und Trostmusiken, der Requien, Tombeaus, Messen und Oratorien oder ins Repertoire der späten Werke mit ihrer Aura von »letzten Dingen« – Bruckners Neunte wird das Festival beschließen. Aber auch eine große hochdramatische Legende schien uns unverzichtbar – vor allem wenn einer dabei so spektakulär zur Hölle fährt wie der deutsche Gelehrte in »Fausts Verdammnis« von Hector Berlioz.
Kompositionen wie das »Schicksalslied« von Johannes Brahms gehören schon durch ihre Titel in das Programm – ein Werk für Chor und Orchester auf Hölderlins Gedicht von der unerbittlichen Zweiteilung der Sphären der »Seligen Genien«, die »schicksallos« droben im Licht wandeln, während die »leidenden Menschen ... blindlings von einer Stunde zur andern … Jahr lang ins Ungewisse« hinabfallen.
Ein neues »Schicksalslied« wurde in Auftrag gegeben, getreu unserer Maxime, dass »Tradition« ständig neu gedacht werden müsse – der Komponist Dieter Schnebel wird uns aufhorchen lassen: Trostlos wie Hölderlin, tröstend wie Brahms – wie wird der Komponist-Theologe Schnebel reagieren? Hat das Glück, »schicksallos « zu sein, in der Moderne nicht ohnehin eine ganz andere Bedeutung bekommen? »Roman eines Schicksallosen« heißt das Buch von Imre Kertész, der Auschwitz überlebt hat. Wir sind bei der Politik. Und entfernen uns dabei keinesfalls vom Zentralgestirn fünfte Symphonie. Es gibt ja nicht nur biographische und ästhetische Deutungen dieses Werkes, sondern auch politische.
Ähnlich wie die »Coriolan-Ouvertüre« sei die Fünfte, so der Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt, »in tyrannos« geschrieben, zu Ende gebracht nach den Schlachten von Jena und Auerstedt. »Die Politik ist das Schicksal«, hatte Napoleon zu Goethe gesagt. Schicksal war aber für Beethoven nicht mehr etwas, was als unbezwingbar hinzunehmen gewesen wäre. »Dafür spricht der innere Gang der Satzfolge. Unentrinnbar erscheint das Schicksal nur im ersten Satz.« Die Fünfte sei ein eminent antinapoleonisches Werk – und wer weiß, vielleicht assoziierte Beethoven mit seinem Klopfmotiv »bereits napoleonische Soldaten, die mit klirrenden Waffen auf Wien vorrückten«? (Klaus Schweizer) Zweifellos aber hat Napoleon Recht: Politik IST Schicksal. Davon wusste schon die »Egmont«-Musik Beethovens zu Goethes Freiheitsdrama.
Der britische Musikschriftsteller Paul Griffiths hat inzwischen einen neuen Text hineingesetzt, ausgehend von den Berichten eines UN-Generals über den Völkermord in Ruanda: Beethovens Musik erhält gegenwärtige Schärfe. Einige Werke rufen auch die Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren wach: Strawinskys »Geschichte vom Soldaten« gehört mit ihren rhythmischen Elementen in diese Zeit nicht anders als die spritzig-spielerische Sprache eines Francis Poulenc. Von der Kriegsverwundung eines Pianisten berichtet Ravels »Konzert für die linke Hand«. Häufiger noch sind die Spuren, die das Dritte Reich musikalisch hinterlassen hat: Viktor Ullmanns »Kaiser von Atlantis« wurde im Ghetto Theresienstadt geschrieben, Olivier Messiaens »Quatuor pour la fin du temps« in der Kriegsgefangenen- Baracke, Hanns Eislers »Hollywooder Liederbuch« im amerikanischen Exil und Constantin Regameys Quintett im polnischen Untergrund – und auch in das Konzert der Geigerin Patricia Kopatchinskaja spukt die Politik herein in Gestalt eines »marxistischen Trauermarsches« und des »Concerto funebre«, Karl Amadeus Hartmanns »Todesmusik für die Opfer des großdeutschen Weltherrschaftswahnes«. In diesen Kontext gehören auch unsere Gedenkkonzerte für den hochbegabten Bonner Pianist Karlrobert Kreiten, der wegen defaitistischer Äußerungen von den Nazis hingerichtet wurde, und für den von seinen Kriegserlebnissen zeitlebens traumatisierten Bernd Alois Zimmermann. Zuletzt »politisch reagiert« hat Mauricio Kagel in seinem zweiten Klaviertrio, komponiert im September 2001, geschockt abgebrochen, als ihn die Nachricht vom Terrorakt auf das World Trade Center in New York erreichte.
Ein Motto ordnet die Fülle von Veranstaltungen eines Festivals, zeichnet sinnvolle dramaturgische Linien hinein. Ein Motto ist aber kein Korsett. Immer gruppieren sich darum Inseln, aufgeladen mit eigenen Inhalten, versehen mit eigenen Räumen. Dazu zählt beim Beethovenfest grundsätzlich die Kammermusik Beethovens, sorgfältig eingespannt in ihre historischen Bezüge. Wundersam Ausgefeiltes garantiert hier unser »Klaviersonaten-Wochenende«. András Schiff und Dénes Várjon, sein geistiger Zögling aus Ungarn, spielen die fünf späten Sonaten Beethovens – »Galaxien des Unergründlichen« –, kombiniert mit den drei letzten von Schubert. Der »Architekt« Beethoven neben dem »Schlafwandler« Schubert – so hat Alfred Brendel die beiden Komponisten, so nah und so fern in Wien voneinander, charakterisiert. Wie könnte es »mitteleuropäisch« besser sein – auch Werke von Janáček, Liszt, Bartók, Berg und Kurtág erklingen an diesem Wochenende.
Eine andere »Insel« bilden die Konzerte mit Musik in »authentischer Aufführungspraxis«. Der so genannte »Originalklang«, den viele prominente Ensembles heute bevorzugen, hat sich längst durchgesetzt, bringt Frische und neues Hören in die vermeintlich vertrauten Werke. Wobei wir in diesem Jahr Besonderes bieten, wir sind der Frage nachgegangen: Welche Musik hat der junge Beethoven, zweiter Hoforganist und Bratscher in der »kurkölnischen Hofkapelle« in Bonn, damals gehört, welche Prägungen davon empfangen? Ein Forscherteam ist fündig geworden in der Bibliothek seines Dienstherrn, des Kurfürsten Maximilian Franz, und Mitglieder des Orchesters l’arte del mondo werden die Raritäten zum Klingen bringen. Von besonderem Interesse dürften auch die Einblicke in die berühmten »Niederrheinischen Musikfeste« sein, die seit ihrer Gründung vor 200 Jahren in verschiedenen Städten des Rheinlands alte und neue Musik präsentierten – häufig unter Dirigenten, die auch Komponisten waren, so Felix Mendelssohn Bartholdy und Beethovens Lieblingsschüler Ferdinand Ries. Von beiden Komponisten gibt es große geistliche Werke – der eine schildert den Auszug Israels aus Ägypten, der andere feiert den »Sieg des Glaubens«. Und zweimal haben wir »Originalklang«-Ensembles von europäischem Format dazu verpflichtet, 2018 eigene Konzertserien zu beginnen: Der Pianist/Dirigent Arthur Schoonderwoerd und sein Ensemble Cristofori eröffnen ihren Zyklus der Beethovenschen Klavierkonzerte – der Leiter selber am Hammerklavier –, und vom exzellenten Orchestra of the Age of Enlightenment unter Adam Fischer wird vornehmlich Klassisch- Romantisches zu hören sein, vor allem – endlich – viel Haydn!
Die Öffnung hin zu den transdisziplinären Künsten der Gegenwart – mit Uraufführungen, Tanz, Theater, Performance, Installation – gehört zu den zentralen Anliegen eines Beethovenfestes, das seinen Namenspatron als »Avantgardisten« versteht – als einen, der sich stets der »Freyheit, weiterzugehen« verpflichtet sah. Wenn möglich, mit Referenzen und Reverenzen entweder an Beethovens Musik oder die anderer »E-Musik«-Komponisten. So hat sich die exzentrische Choreographin Mathilde Monnier an Beethovens »Sturm-Sonate« gewagt – in rosa Ausstattung, »Rose-variation« genannt –, die amerikanisch-postmoderne Twyla Tharp an Bachs »Musikalisches Opfer« und eine neue Kreation des israelisch-französischen Choreographen Emanuel Gat – in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern – an Werke von Pierre Boulez und Rebecca Saunders. Wie von unserem Motto inspiriert scheint die »Theatersonate« des österreichischen Schriftstellers Gert Jonke, der den tauben Beethoven – den »Ohrenmaschinisten« – in den Mittelpunkt seines Stückes stellt. Er zeigt das »Genie in Verzweiflungsheiterkeit«, das sich schließlich nur danach sehnt, »in Harmonie mit den Tönen, die er nur noch in seinem Kopf hören kann, zu leben«. Und auch weil das Klavier Beethovens Instrument war, hat ein anderer (witzig-verspielt-abgründiger) Österreicher – Georg Nussbaumer – eine Installation realisiert, die das Foyer des gnadenlos funktionellen Bonner World Conference Center verunsichern wird. Ein von der Decke »stürzender« Flügel ist Resonanzkörper und Pendelobjekt zugleich. Es setzt Töne frei, die an das »Schicksals«-Motiv aus Beethovens Fünfter erinnern, sie sind aber auch tickender Zeitmesser und Metronom.
Ein dritter kreativer Österreicher ist Bernhard Lang, vielseitiger Komponist von Graden, dessen OEuvre bereits mehrfach von »Überschreibungen« von Werken der Musikgeschichte durchzogen ist. Er hat sich Beethovens drittes Klavierkonzert ausgesucht, um eine »Mutation« vorzulegen – die Grundrisse des Originals bleiben erhalten, darüber stülpt sich ein neues Werk, das von Langs »Looping-Technik« geprägt ist: »… loops for Ludvik«, so der Titel. Als viertes – und eigenständiges Element – bewährt sich unser umfangreiches Jugend- und Education-Programm »Ludwig + Du«. Pfiffiges Crossover zwischen Klassik, Pop und Jazz lassen wir dabei nicht aus – Lockvögel in die höheren Sphären unserer Bewahrungskultur. Lockvögel mögen aber auch die vielen jungen Preisträger großer Wettbewerbe sein, die überall das Programm sprenkeln, Klavier im Hauptfach, aber auch temperamentvolle Newcomer aus der Sparte Streichquartett beleben die Szene. In diesen jugendlichen Rahmen gehört auch das »Campus«-Konzert, das alljährlich eine musikalische Begegnung – nein, Verschmelzung! – verschiedenster Kulturen praktiziert, wobei das Bundesjugendorchester immer für die deutsche Seite steht. In diesem Jahr ist Indien das Gastland. Tabla, Bansuri-Flöte und Percussiongroups – Bonn ist UN-Sitz und »Ort des internationalen Dialogs zu Zukunftsthemen«, so die Homepage der Stadt.
Mit einem Feuerwerk von Veranstaltungen wird das Beethovenfest 2018 eröffnet. Und wieder geht es nicht ohne Anspielungen auf Schicksal, Kunst und Politik. Auf dem Marktplatz erklingt die legendäre Einspielung von Beethovens Neunter aus dem Jahr des Mauerfalls – Dirigent Leonard Bernstein. »Ode an die Freiheit« hieß es 1989 ...