Dimensionen des Schicksals
Das »Schicksal«, Motto des Beethovenfestes 2018, ist in allen Orchesterkonzerten des Festivals präsent, teils deutlich und offensichtlich, teils im Hintergrund. Man wird zwar nie genau wissen, ob sich die Begebenheit tatsächlich so zugetragen hat, wie Anton Schindler sie schilderte, oder ob sie zu den Passagen seiner kreativen Berichterstattung gehört. Aber allein mit dem Wörtchen »Schicksal« traf der Adlatus von Beethovens späten Jahren den Nerv der Zeit und ihres Pathos. Der Begriff entstammt alten, tiefen Schichten unserer Sprache; wenig Worte mit der Endsilbe »-sal« sind heute noch in Umlauf: Irrsal und Wirrsal, Mühsal und Trübsal, Rinnsal und Labsal, Scheusal und eben Schicksal.
Schicksal und Mythos
Im »Schicksal« speichert sich vieles: Individuelles und Menschheitsgeschichtliches, Wille und Verhängnis, Spannung zwischen Gottheit und Mensch, also auch zwischen Religion und Aufklärung. Beethoven waren die verschiedenen Bedeutungsschichten und -nuancen vertraut. Er kannte Graf Egmonts Erkenntnis in Goethes Trauerspiel: »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten. Wohin geht es, wer weiß es?« Mit diesem Drama beschäftigte er sich besonders intensiv, die Schauspielmusik dazu – nicht nur die Ouvertüre – hält für das Genre ein außergewöhnlich hohes Niveau. Er kannte Napoleons Antwort an Goethe: »La politique, c’est le destin«, ob er sie auch teilte, steht auf einem anderen Blatt. Friedrich Hölderlin war Beethovens Altersgenosse, die beiden kannten sich nicht, waren sich aber im Streben nach einer »Revolution der Gesinnungen und der Vorstellungsarten« (Hölderlin) einig. Der Dichter aus dem Schwäbischen schrieb nicht lange vor Beethovens Fünfter seinen »Hyperion«-Roman mit dem Schicksalslied des Protagonisten:
Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
[…] Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.
Brahms vertonte das Gedicht in unvergleichlicher Art, wandte den dunklen Schluss ins Helle, indem er den Anfang wiederholte. Dieter Schnebel setzt sich mit den beiden Zeitgenossen und Verfechtern hoher Ideale in einem Auftragswerk für das Beethovenfest auseinander. Hölderlin, der Zeitgenosse Beethovens, war auch ein Liebling der Moderne.
Dimensionen des Schicksals
Beethoven kannte außerdem die antiken Mythen und ihre Heroen, die sich im Interesse der Menschheit gegen ihr Schicksal auflehnten – Herkules, vor allem aber Prometheus. Schicksal bedeutete für den Komponisten aber auch sein ganz persönliches Leiden, die zunehmende Einschränkung seines Gehörs, die ihn mehr und mehr aus der Gesellschaft der Menschen auszuschließen drohte. Das »Heiligenstädter Testament«, das er als knapp 32-Jähriger verfasste, legt davon beredtes Zeugnis ab. Klagen über das »harte Schicksal« mischen sich darin mit Gedanken über den Tod, er verknüpft sie mit der Hoffnung, »alles das hervorgebracht zu haben, wozu ich mich aufgelegt fühle« – mit der Hoffnung also, nicht vor Vollendung seines Lebenswerks »die Welt verlassen« zu müssen. Das Beethovenfest thematisiert diesen Zusammenhang zwischen Kunst und Schicksal mit »letzten Werken« – dem Violinkonzert von Robert Schumann, das lange unter dem Verdikt krankheitsbedingter Schwäche stand, der letzten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, die in ihrer lakonischen Tonsprache Zitate aus Rossinis »Tell«-Ouvertüre mit Assoziationen an das Ticken der Geräte in einer Intensivstation zu einer merkwürdig heiteren Grotesken vermengt, und Bruckners neunter Symphonie, deren Finale der Komponist nicht mehr abschließen konnte und die seither unter die »vollendet unvollendeten« Werke der Musikgeschichte gerechnet wird.
In Beethovens OEuvre fanden die Dimensionen des Schicksals auf verschiedene Weise Ausdruck. Das Beethovenfest geht der Vielfalt der Äußerungen nach. Selbstverständlich steht die fünfte Symphonie auf dem Programm, in zwei Interpretationen, eine Entscheidung, die sich bei den letzten Festivals bewährte. Spannender als die Frage, ob sich am Anfang in einem Signalzitat aus französischer Revolutionsmusik tatsächlich das Schicksal bemerkbar mache, ist die andere, was eigentlich aus diesem Motiv und seinen Möglichkeiten wird. Das triumphale Ende der Symphonie kündet jedenfalls nicht von der Macht des Schicksals, dem die Menschen hilflos ausgeliefert wären. Beethovens Ouvertüren, vor allem »Egmont«, »Coriolan« und »Fidelio«, gehören unbedingt in ein Programm, das um den Begriff des Schicksals kreist, denn sie gelten Helden, deren Leben, Leiden und Aufbegehren eng mit den Kämpfen ihrer Zeit verknüpft waren. Eine Gattung aber steht ganz pragmatisch für Beethovens eigenes Schicksal: das Klavierkonzert. In Wien feierte er seine ersten Erfolge als Pianist, gerühmt wurden neben der musikalischen und technischen Vollendung seines Spiels vor allem seine Improvisationen. In Klavierkonzerten konnte er sich als Virtuose und als Komponist profilieren, der Erfolg des einen brach den Ambitionen des anderen Bahn. Diesem Genre kam in Beethovens öffentlicher Wahrnehmung eine Pionierfunktion zu. Die Reihe der Klavierkonzerte endet, als ihm die sukzessive Ertaubung öffentliche Auftritte als Solist mit Orchester nicht mehr erlaubte. Obwohl er die Form des Solokonzertes von derjenigen der Symphonie unterschied und beide nicht vermischte, bestehen Querverbindungen zwischen beiden Gattungen, am sinnfälligsten zwischen den beiden c-Moll-Werken, dem dritten Klavierkonzert und der fünften Symphonie. Deren Finalthema ist im Anfangsthema des Klavierkonzertes vorgebildet. Dort steht es in Moll, wird leise eingeführt, im Schlusssatz der Symphonie erscheint es in Dur im Ornat des vollen Orchesterklangs.
Beethoven und seine Antipoden
Ein Festivalprogramm würde Beethoven nicht gerecht, wenn nicht auch die Gegensätze zum Hauptthema und das »Weitergehen in der Kunst«, an dem ihm so sehr lag, vorkämen. Die Gegensätze beziehen sich dabei sowohl auf sein eigenes Schaffen als auch auf sein Verhältnis zu Zeitgenossen und deren musikalischer Ästhetik. Parallel zu seiner fünften komponierte er seine sechste Symphonie, die »Pastorale«. Beide gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Den Blick der Fünften auf die menschheitsgeschichtlichen Ideale ergänzt die Sechste durch den Blick auf die Natur, auf das Leben in und mit ihr – dorthin also, wo das Walten der Gottheit in seiner Ambivalenz erschaut und erlebt werden kann. Der Schicksalsgedanke wird dadurch in einen größeren Rahmen gestellt. Der Zufall will es, dass in dieses Jahr der 150. Todestag Gioachino Rossinis fällt. Der italienische Komponist löste mit seinen Opern in Wien (wie in anderen europäischen Städten) einen wahren Taumel aus. Die Rossini-Manie stellte phasenweise alles andere in den Schatten, auch das Interesse an Beethovens Werken und Auftritten. Der nahm es wohl gelassen. Er betonte zwar immer wieder die Distanz zwischen seiner und Rossinis Musik, sprach aber von diesem mit Respekt, fand wohl auch Gefallen an dessen Arien (er liebte die italienische Oper) und empfing ihn – anders als Anton Schindler berichtet – Anfang 1822 freundlich, auch wenn die Konversation nicht nur unter Beethovens schlechtem Gehör, sondern zusätzlich noch unter Kommunikationsschwierigkeiten litt. Rossini sprach über Beethoven ebenfalls mit Respekt. Sie waren auf ganz verschiedenen Feldern der Tonkunst tätig, die Geschichte – nennen wir sie Schicksal – ließ genügend Spielraum für beide, und beide wussten das. Ähnliches wäre über Carl Maria von Weber zu sagen, den Beethoven 1823 in Baden zum Gespräch empfing. Es endete freundlich, obwohl sich der Jüngere einst kränkend abfällig über die siebte Symphonie geäußert hatte. Rossini und Weber waren vor allem Opernkomponisten. Sie feierten ihre Erfolge und erlitten ihre Misserfolge auf einem Gebiet, das für Beethoven, trotz »Fidelio«, ein Wunschziel blieb, dem er nur einmal wirklich nahegekommen war. Er trug sich danach noch mit manch anderem Opernplan, keinen führte er aus. Ideales Musiktheater hätte für ihn Symphonie und Drama zusammenbringen müssen. Vorstellungen davon, wie dies gelingen könnte, hatte er, verwirklichen konnte er sie nicht. Ein französischer Komponist, eine Generation jünger, griff wohl unbewusst diesen Gedanken auf. Hector Berlioz war von Shakespeare, Beethoven und von Goethes »Faust« gleichermaßen in Bann geschlagen, und diese fast schicksalhafte Begeisterung verlangte nach einer angemessenen ästhetischen Form. Die dramatische Legende »La damnation de Faust« stellt den Versuch einer solchen Synthese über die Gattungsgrenzen hinweg dar. Diese Lösung ist an ihren besonderen Stoff gebunden, und der Stoff seinerseits ist mit Schicksal schwer beladen – ganz in dem Sinne, wie Beethoven sie schätzte.
Gebrochenes Pathos
Was aber wird, wenn Menschen sich zu Herren des Schicksals aufwerfen? Das Pathos der fünften Symphonie, die Hoffnung, dass die Menschheit in Freiheit und Solidarität zu sich selbst finde, wurde im 20. Jahrhundert vor allem durch den NS-Terror durchkreuzt und in das Gegenteil verkehrt. Beethoven erhielt sein härtestes Kontra nicht durch seine Zeitgenossen, sondern durch diejenigen, die ihn für ihre unmenschlichen Zwecke funktionalisierten. Beethovens Schicksal ist historisch auch sein Missbrauch und der Kampf dagegen. Für ihn stehen Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann, der sein OEuvre aus dem Bedürfnis schuf, »ein Bekenntnis abzulegen, nicht aus Verzweiflung oder Angst vor jener Macht [dem Nationalsozialismus], sondern als Gegenaktion«. Sein »Concerto funebre«, 1939 den Opfern von Dachau gewidmet, ist Teil eines Programms, das Patricia Kopatchinskaja für dieses Beethovenfest zusammenstellte – mit John Zorns Streichquartettreflexionen über das Gebet zum Versöhnungstag, Frank Martins instrumentaler Passionsmusik, die er Yehudi Menuhin widmete, und mit Luboš Fišers Variationen über musikalische Kreuzfiguren, in denen Pauken den Marsch des Schicksals, Glocken dessen Vollendung ankündigen.